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Zikadenkönigin

Zikadenkönigin

Titel: Zikadenkönigin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Sterling
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seiner trüben Stimmung zu reißen … Statt dessen haben sich meine Sorgen vervielfacht. Ach, Manfred, wenn du wüßtest …«
    Ich setzte mich zu ihr auf die Decke und bot ihr ein Feldfläschchen Mineralwasser an. »Du mußt mir alles erzählen.«
    »Wie kann ich deine Freundschaft in Anspruch nehmen?« fragte sie. »Ein, zwei gestohlene Küsse hinter der Bühne, ein paar liebe Worte – damit ist doch nichts vergolten. Am besten, du überläßt mich meinem Schicksal.«
    Darüber mußte ich lächeln. Das arme Mädchen schloß vom Grad unserer körperlichen Intimität auf mein Verantwortungsgefühl; als ob bloße sexuelle Freiheiten etwas mit meiner Hingabe an sie zu tun hätten. In dieser Hinsicht dachte sie merkwürdig altmodisch, mit der übernommenen Mentalität des Industriezeitalters, in dem Dinge gekauft und Leistung mit Gegenleistung belohnt wurden.
    »Unsinn!« wehrte ich ab. »Ich weiche nicht eher von deiner Seite, bis du mir dein Herz ausgeschüttet hast.«
    »Du weißt, daß ich verlobt bin?«
    »Ich vernahm es gerüchteweise.«
    »Ich hasse ihn«, stieß sie zu meiner unendlichen Erleichterung hervor. »In einem schwachen Augenblick willigte ich in diese Verlobung ein. Mein Vater war so aufgebracht und von dieser Idee derart besessen, daß ich es seinetwegen tat, um ihm Aufregung zu ersparen. Er ist schwerkrank, und die Chemotherapie hat seinen seelischen Zustand nur noch verschlimmert. Er hat ein Buch geschrieben – voller grausiger, abscheulicher Dinge. Unter ganz bestimmten Umständen sollte es verlegt werden – dann nämlich, wenn er nachweisbar Selbstmord begangen hat. Er droht damit, sich umzubringen, um der Familie Schande zu bereiten.«
    »Wie entsetzlich!« sagte ich. »Und was ist mit diesem Herrn?«
    »Ach, Marvin Somps wird seit Jahren von meinem Vater protegiert. Bei Flugsimulationen wurde die Künstliche Intelligenz zum erstenmal eingesetzt. Dieses Fachgebiet liegt Vater sehr am Herzen, und Dr. Somps ist diesbezüglich ein Experte.«
    »Wahrscheinlich hat Somps finanzielle Sorgen«, meinte ich. Ich war nie ein Anhänger der Naturwissenschaften, besonders jetzt nicht, da sie nur noch in stark beschränktem Rahmen betrieben werden. Doch ich konnte mich gut in Somps' Situation hineinversetzen, der befürchten mußte, daß sein Fonds zur Neige ging. Heutzutage gibt es kaum noch jemanden, der bereit ist, teures menschliches Denken zu finanzieren; lediglich Exzentriker vom Schlage Dr. Hillis' bilden da eine Ausnahme.
    »Mit Sicherheit«, pflichtete sie mir bei. »Und die Wissenschaft ist sein Leben. Im Augenblick befindet er sich auf dem Flugplatz droben auf der Mesa. Er will irgendeine elende Maschine testen.«
    Einen Moment lang tat Somps mir leid, doch ich verdrängte dieses Gefühl. Der Mann war mein Rivale; mithin war er mein Feind.
    Ich konsultierte meinen Codeschlüssel. »Ich glaube, ich sollte mich mal mit Dr. Somps unterhalten.«
    »Auf gar keinen Fall! Vater wäre sehr böse.«
    Ich lächelte. »Ich respektiere deinen Vater als Genie. Aber ich fürchte mich nicht vor ihm.« Ich setzte mir den Hut auf und glättete die breite weiche Krempe. »Natürlich bleibe ich höflich, doch wenn Somps die Augen geöffnet werden sollen, dann bin ich der richtige Mann für diese Aufgabe.«
    »Tu's nicht!« rief sie, meine Hand ergreifend. »Vater würde mich enterben.«
    »Welche Rolle spielt der schnöde Mammon in unserer heutigen Zeit?« fragte ich. »Ruhm, Glanz – das Schöne und das Erhabene –, das sind die erstrebenswerten Ziele!« Ich packte sie an den Schultern. »Leona, dein Vater brachte dir bei, wie man seine abstrakten Reichtümer verwaltet. Aber für dieses versteinerte, mumifizierte Leben bist du zu seelenvoll, zu menschlich.«
    »Das bilde ich mir auch gern ein«, erwiderte sie mit schmerzerfülltem Blick. »Aber, Manfred, ich bin weder so talentiert wie du noch so kultiviert wie deine Freunde. Sie tolerieren mich nur wegen meines Reichtums. Etwas anderes habe ich nicht zu bieten. Ich besitze nicht den Geschmack, die Anmut oder den Esprit einer Mari Kuniyoshi.«
    Ich spürte, wie sehr sie unter ihrer Unsicherheit litt. Vielleicht passierte es in diesem Augenblick, mein werter MacLuhan, daß ich mich endgültig in sie verliebte. Es ist einfach, jemanden mit Grazie und Eleganz zu bewundern, sich vom raffinierten Faltenwurf eines Rocks oder einem verführerischen Blick einfangen zu lassen. In gewissen Kreisen ist es möglich, Affären zu unterhalten, die lediglich auf sprühendem

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