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Zimmer d. Wahrheit - Schatzjäger - Zelluloid

Zimmer d. Wahrheit - Schatzjäger - Zelluloid

Titel: Zimmer d. Wahrheit - Schatzjäger - Zelluloid Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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klug zusammengebastelter Missverständnisse, und schon kochten die Wellen der Aggression hoch. Die vier Fremden hatten binnen einer Stunde durch Beobachten und Nachhaken herausgefunden, wo in der gut besuchten Wirtschaft die Freundschaften und Feindschaften verborgen lagen, hatten sich mitten zwischen die Fronten gestellt, so dass niemand genau verstand, was sie eigentlich wollten. Die ersten Schläge galten noch ihnen, doch bald schon gingen die Dorfleute aufeinander los, und es fiel niemandem auf, als die Fremden sich zurückzogen, um das Geschehen zu filmen, und schließlich ganz verschwanden, ehe jemand ihr Spiel durchschaute.

5
    3. Filmrolle, 1. Szene (an einem Wasserfall)
    Die Frau war nackt.
    Sie hatte breite Hüften und kräftige Oberschenkel, dazu einen schmalen Oberkörper mit kleinen Brüsten. Lachend balancierte sie über eine Reihe von flachen Steinen in Richtung Flussmitte. Als sie den letzten Stein erreicht hatte, sah es aus, als wolle sie ins Wasser springen, doch sie wandte sich langsam um, öffnete ihr dunkelbraunes Haar und ließ es weich über ihre Schultern fallen. In dieser Pose, die Arme emporgehoben, die Hände hinter dem Kopf, verharrte sie eine Minute splitternackt. Es sah aus, als genieße sie die Sonne an einer einsamen Stelle im Wald.
    Die Kamera löste sich nur widerwillig von ihr. Diesmal machte sie keinen gemächlichen, kontrollierten Schwenk, sondern huschte zappelnd, von launenhafter Unruhe erfüllt, zu den Seiten, erhaschte flüchtige, wischende Blicke auf die Natur – schlanke Bäume mit dunkelgrünem Blätterkleid, ein Wasserfall, die weiße Gischt an seinem Fuß, das Wasser, aufspritzend, ein schmales Ufer aus Kieselsteinen, zwischen denen hohe, urzeitlich anmutende Farne hervorwuchsen. Hin und her ging das Zucken der Kamera, wie das natürliche Umherspringen eines nervösen menschlichen Auges. Und wie das Auge eines menschlichen Beobachters es zweifellos getan hätte, kehrte auch die Kamera immer wieder zu dem entblößten Körper zurück.
    Einige Minuten währte dieses ungewöhnliche Spiel, dann löste sich die Kamera weiter von ihrem Motiv als zuvor, beschrieb einen Halbkreis und wurde dabei ruhiger, steter. Am Ende der halben Drehung kamen zwei Personen ins Bild. Nun herrschte Gegenlicht, die Sonne des Vormittags brannte grell durch die Baumwipfel, und von den beiden war kaum mehr als die Konturen auszumachen. Zwei junge Männer waren es, die es sich auf zwei Felsen bequem gemacht hatten. Sie trugen ihre volle Bekleidung und schienen den Anblick sehr zu genießen. Fetzen ihrer Konversation wurden von dem Mikrofon eingefangen und ließen erahnen, dass sie die Situation mit anzüglichen, frivolen Bemerkungen kommentierten.

6
    Ende September 1974, in der Nähe von Wolfach im Schwarzwald
    Simon legte den Film in die kastenförmige Kamera ein. Die Spule, die in einer schlichten Kassette verborgen lag, hatte einen Durchmesser von 100 Millimetern. Das entsprach 45 Metern Film oder, in Laufzeit umgerechnet, elf Minuten. Zehn dieser Filme hatte er im Gepäck. Wie er festgestellt hatte, gehörte er nicht zu den Leuten, die viel Abfall produzierten – am Ende würden nur wenige Meter herausgeschnitten werden. Seine Filme hatten einen künstlerischen Anspruch, keinen kommerziellen. Das bedeutete auch, dass Pannen oder unerwartete Wendungen erwünscht waren und im endgültigen Material erhalten bleiben mussten. Es gab nur ein ungefähres Drehbuch, ohne feste Dialoge. Die Anweisungen gab er spontan, kurz vor dem Drehen.
    Er warf einen Blick in die Runde. Steffen hatte es sich mitten in der Wiese bequem gemacht, lag auf dem Rücken, Arme und Beine ausgestreckt, einen Joint im Mund. Das Hemd hatte er aufgeknöpft. Er sah ein bisschen mitgenommen aus. Der Saufwettbewerb vor einigen Tagen, den er gegen die Dörfler gewonnen hatte, lag ihm noch in den Knochen. Simon mochte sein müdes, unkonzentriertes Gesicht. Es passte zu der Stimmung, die er in seinem Film erzeugen wollte. Wenn man darauf achtete, dass harte Lichtverhältnisse jede Falte in seinem vorzeitig gealterten Gesicht offenbarten, bot er einen herrlichen Kontrast zu der frisch wirkenden Natur. Der friedvolle, lauschige Schwarzwald – so die Aussage des Films – konnte ihm die Erholung nicht geben, die er versprach. Simon wollte Schluss machen mit dem Klischee vom belebenden Urlaub am Busen der Natur. Er wollte die Natur zeigen, wie sie wirklich war: rücksichtslos und hässlich, dem Menschen gegenüber gleichgültig, und

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