Zimmer d. Wahrheit - Schatzjäger - Zelluloid
außerdem irgendwie anstrengend. Anstrengend wie das Leben selbst.
Lillis Lachen war zu hören, aber ihr Körper war hinter einem Hügel verborgen. Auch der vierte und letzte in ihrer Gruppe trieb sich dort herum. Gerhard Pödel – kürzer: Pö. Sein Kopf tauchte manchmal auf, und es schien, als führe er irgendeinen bizarren Tanz auf. Pö war ein guter Mitarbeiter für Simon, denn wenn er etwas sah, versuchte er es zu zerstören oder wenigstens lächerlich zu machen. Das war ein elementarer Ansatz für jede künstlerische Arbeit, die er zu schätzen wusste. Was ihn an Pö störte, war höchstens, dass er Simons Autorität nicht in dem Maße anerkannte, wie es nötig war. Manchmal arbeitete er gegen ihn oder an ihm vorbei. Man musste ein Auge auf ihn haben, damit er sich keine zu großen Freiheit herausnahm. Lilli war leicht beeinflussbar, wie auch Steffen. Nur dass sich Steffen vollkommen loyal verhielt, während Lilli in letzter Zeit dazu tendierte, in Pö einen zweiten Anführer zu sehen.
Simon liebte es, der Boss zu sein. Als sein Vater vor einem Vierteljahr bei einem Arbeitsunfall ums Leben gekommen war – wenige Tage nach seinem fünfzigsten Geburtstag – hatte er eine Erbschaft gemacht, kein Vermögen zwar, doch genug, um sich ein paar Wünsche zu erfüllen. Schon lange spielte er mit dem Gedanken, einen experimentellen Film zu drehen, und noch ehe die Erbschaftsangelegenheiten vollständig geklärt waren, hatte er eine Super-8-Kamera von der besseren Sorte gekauft, sowie Filme und einige andere Ausrüstungsgegenstände. Es war zunächst ein Kauf auf Kredit gewesen, doch das Geld aus der Erbschaft war brav geflossen, und mittlerweile hatte er seine Schulden zurückgezahlt.
Simon brauchte nicht lange zu überlegen, wovon sein Film handeln sollte. Das Thema stand längst fest: Es ging darum, die Verlogenheit der Welt in schonungsloser Weise offen zu legen. Alles, was in dieser Gesellschaft als schön, ideal oder wünschenswert dargestellt wurde, hatte seiner Meinung nach einen doppelten Boden, einen falschen Kern, und dieser musste entblößt werden, ohne Rücksicht auf die Gefühle der anderen.
Die Inspiration war rasch da gewesen: Ein Werbeprospekt über den bayrischen Wald, im Zusammenhang mit einem Heimatfilm, der im Allgäu spielte, brachte ihn auf die Idee, einen Anti-Heimatfilm zu drehen. Da er in Nordbaden wohnte, verlegte er die Handlung in den näher gelegenen Schwarzwald. Es sollte die Geschichte von einer kleinen Gruppe orientierungsloser junger Leute werden, die in die vermeintliche Idylle flüchteten, um dort zu sich zu finden. Anstatt ihnen einen Halt und neue Anstöße zu schenken, sollten die bedrohliche Natur des Schwarzwalds und die tumbe, konservative und inzestuöse Kultur der ländlichen Dörfer ihnen den Rest geben. Am Ende ihrer Reise sollten sie zerrissene, kranke Gestalten sein, unendlich weit entfernt von jeder Hoffnung auf das Happy End, das die Heimatromane anboten. Der Zuschauer sollte das Gefühl bekommen, die Mutter Natur hätte die Kinder, die an ihrer Brust Trost und Nahrung suchten, wie ein blutrünstiges Monstrum verschlungen. Der Film würde einen Scherbenhaufen zurücklassen, in dem es keinen Raum mehr für Herz, Schmerz und Heimweh gab.
Die Zeit war reif für ein solches Werk. Die altmodische Gesellschaft der Älteren hielt auf ihre Weise unbeirrbar an dem Mythos von der heilenden Natur fest, und die Jüngeren taten mit ihrer naiven Hippie-Mentalität im Grunde nichts anderes. Während die Alten sich von den Schmachtschinken mit O. W. Fischer und Liselotte Pulver verzaubern ließen, in der jeder fesche Mann ein Jäger oder ein Wilderer war, träumten die Jungen von sich selbst versorgenden Kommunen, in denen alle gleichberechtigt lebten, alles gemeinsam erwirtschafteten und paritätisch entschieden. Mit anderen Worten: Die Alten glaubten daran, dass am Ende die Guten über die Bösen siegen würden, und die Jungen glaubten, dass am Ende das Gute im Menschen über das Böse triumphieren würde. Wo war da der Unterschied? Schon die alten Nazis hatten die Natur vergöttert, auf ihre Weise, und die jungen Revoluzzer, die endlich die eingerosteten Strukturen durchbrechen wollten, proklamierten wieder das Zurück zur Natur. Fiel ihnen denn nichts anderes ein?
Simon hielt beide Sichtweisen für lächerlich. Er wollte zeigen, dass die Welt nicht so war, wie die Menschen sie sich erträumten. Die Träume der Elterngeneration und die Träume ihrer Kinder – sie
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