Zimmer Nr. 10
sagte Bergenhem. »Wir müssen die Verbindung suchen.«
»Hier liegt die Verbindung doch auf der Hand«, sagte Halders.
»Ja?«
»Familienbande. Wir haben es mit zwei Morden innerhalb einer Familie zu tun, falls das noch niemandem aufgefallen sein sollte.«
»Und?«, fragte Bergenhem.
»Das Familienoberhaupt«, sagte Halders. »Wo fängt man an, nach dem Täter zu suchen?« Er wandte sich an Bergenhem. »Erinnerst du dich an die Lektion auf der Polizeihochschule? Oder warst du an dem Tag krank?«
Winter traf Mario Ney in demselben Zimmer, wo sie sich bereits mehrere Male getroffen hatten. Ney sah krank aus, dem Zerfall nahe.
Sie hatten versucht, sein Alibi zu rekonstruieren, aber es gab keins. Das musste nichts bedeuten, vielleicht sprach das sogar für ihn. In der letzten chaotischen Zeit hatte er keine Kontakte gepflegt. Er hatte die Einsamkeit gesucht, erst zusammen mit Elisabeth, dann allein in der Wohnung. Winter hatte im Gesicht des Mannes nach Antworten geforscht, in seinen Worten, seiner Art, sich zu bewegen. Sie hatten Trauer zum Ausdruck gebracht, Trauer und Verzweiflung. Andere Gefühle würden später kommen. Er konnte selbstmordgefährdet sein, war es vielleicht schon. Die Familie Ney konnte von der Erde verschwinden. Wollte jemand, dass es geschah?
»Ich habe Ihnen einige Fragen zu stellen«, sagte Winter.
Ney schaute aus dem Fenster. Das tat er, seit Winter den Raum betreten hatte, in dem es ungelüftet roch, ein süßlicher Geruch, der auch von Schweiß, Angst und Verzweiflung herrühren konnte.
»Sie sah aus, als würde sie schlafen«, sagte Ney. Sein Blick war leer. Jetzt drehte er den Kopf. »Meine kleine Elisabeth. Als würde sie schlafen.«
Winter hatte Ney erlaubt, seine Frau noch einmal zu sehen. Das war nicht selbstverständlich. Ihr Hals war vor Ney verborgen worden.
Winter wollte nicht, dass Ney etwas sah.
Für einen Moment hatte Ney fast friedvoll gewirkt. Als wäre er dem Tod begegnet und hätte ihn akzeptiert. Den Tod eines anderen, den gewaltsamen Tod eines anderen.
»Sie war mehr als vierundzwanzig Stunden verschwunden, bevor wir … sie fanden«, sagte Winter. »Ich muss Sie wieder fragen, Herr Ney.« Er beugte sich vor. »Haben Sie eine Ahnung, wo sie sich während dieser Zeit aufgehalten haben könnte?«
»Ab-so-lut-kei-ne-Ah-nung.« Ney betonte jede einzelne Silbe. Es war wie eine neue Sprache. Dann suchte er Winters Blick. »Woher sollte ich das wissen?«
»Ich weiß es nicht, Herr Ney. Aber irgendwo muss sie gewesen sein. Irgendwo in einem Gebäude. Niemand hat sie gesehen.«
»Nur weil sie niemand gesehen hat, braucht sie sich doch nicht die ganze Zeit über irgendwo versteckt zu haben«, erwiderte Ney.
»Könnte sie irgendwo hingefahren sein?«, fragte Winter.
»Gefahren? Wohin hätte sie fahren sollen?« Ney sah sich suchend um. »Sie hat doch hier gewohnt. Das war ihr Zuhause.«
»Woher stammt sie?«, fragte Winter. »Wo war ihr Elternhaus?«
»Das war in … Halmstad.«
Halmstad. Eine Stadt weiter südlich an der Küste, auf halbem Weg nach Malmö, Kopenhagen. Winter hatte eine ungefähre Vorstellung davon, wie die Leute dort sprachen. Einige seiner Kollegen kamen aus Halland, doch bei Elisabeth Ney war ihm der Dialekt nicht aufgefallen.
»Sie ist hierher gezogen, da war sie noch sehr jung«, fuhr Ney fort.
»Kennen Sie ihre Eltern?«
»Ja. Aber die sind tot.«
»Hat sie Geschwister?«, fragte Winter.
»Nein.«
Wie Paula, dachte Winter. Keine Geschwister.
»Leben in Halmstad noch Verwandte von ihr?«
»Dort hat es nie welche gegeben. Die Eltern sind nach Halmstad gezogen, als Elisabeth noch klein war. Ich glaube nicht, dass sie damals dort jemanden kannten.«
»Sie hatten doch wohl Freunde?«
»Das glaub ich schon, aber ich kenne sie nicht.«
»Elisabeth wird sie gekannt haben.«
»Sie meinen, sie ist dort hingefahren, nach Halmstad? Und dann wieder hierher zurück? Warum?«
»Ich versuche nur herauszufinden, wo sie gewesen sein könnte«, sagte Winter.
»Ich weiß, wo sie ist«, sagte Ney.
»Bitte?«
Doch Ney antwortete nicht mehr. Er schaute wieder hinaus in den Hof.
»Was meinen Sie, Herr Ney?«
»Sie ist zu Hause«, sagte Ney, den Blick dem Himmel zugewandt.
Die Dämmerung fiel wie Regen. Winter meinte fast, sie zu hören, aber vielleicht war es auch nur der Feierabendverkehr auf der Umgehung. Alle wollten nach Hause.
Auf dem Heimweg kaufte Halders im Supermarkt an der Ecke Knäckebrot, Dickmilch, Äpfel und geräucherte
Weitere Kostenlose Bücher