Zimmer Nr. 10
gewichtslose Tochter. Sacht wiegte er sie vor dem großen Fenster zur Stadt, die bald erwachen würde, und Lilly nickte sofort wieder ein. Er spürte, wie sich ihre Hand an seinem Hals bewegte. Auch sie wog nichts, wie eine Feder.
Der Traum wollte sich nicht wieder einstellen. Winter stand erneut auf und versuchte, in die Küche zu schleichen, ohne jemanden zu wecken. Elsa bewegte sich in ihrem Bett, wurde aber nicht wach. Er hatte Durst und setzte sich mit einem Glas Wasser an den Küchentisch. Vielleicht würde ihm das Wasser helfen, wieder einzuschlafen. Das Einschlafen fiel ihm immer schwerer.
Der Schatten auf der Hausfassade gegenüber bildete ein unbestimmtes Muster. Eine Figur, zwei Figuren. Plötzlich musste er an Christer Börge denken. Eine Figur, die eine Kirche verließ. Börge hatte nicht in seine Richtung geschaut, aber Winter hatte gespürt, dass auch er ihn erkannt hatte, an seiner Art, nicht den Kopf zu drehen. Als ob er nur geradeaus starren könnte.
Börge hatte sich nicht sehr verändert.
Bei den Kirchbesuchen hatte Winter nicht neben Nina Lorrinder gesessen. Aber beim letzten Mal hatte er ein paar Worte mit ihr gewechselt. Jetzt fragte er sich, ob Börge es bemerkt hatte.
Die Sonne hing tief über den Hügeln. In der Ferne sah er die Krankenhausfassade. Sie warf einen großen Schatten, der aber nicht bis hierher reichte. Das Zimmer, in dem er stand, war hell im Sonnenlicht. Es gab eine abgedroschene Redensart, etwas bade im Licht, aber das hatte er sich noch nie vorstellen können. Wie genau badeten Gegenstände im Licht? Was waren Gegenstände und was Licht? In Paulas Wohnung war heute alles hell, ohne Unterschied. Ihm wurde plötzlich bewusst, dass es die drei, vier Male, die er hier gewesen war, immer bedeckt gewesen war. So war dieser Herbst gewesen.
Hatte Paula sich bedroht gefühlt? Versteckte sie sich vor etwas? Wann hatte die Bedrohung begonnen? War sie real? Daran hatte er denken müssen, als er den kleinen vogelgleichen Körper seiner Tochter an sich gedrückt hatte. Vielleicht hatte er schon daran gedacht, als er den Körper ihrer Mutter in den Armen gehalten hatte. War es eine lange währende Bedrohung? Nein. War es eine Bedrohung aus der Vergangenheit? Nein. Eine akute? Nein. Ja. Nein. Ja. Ihre Einsamkeit, Paulas Einsamkeit. Sie hatte sie nicht selbst gewählt. Winter blickte sich in der verhüllten Wohnung um. Bald würden die Plastikplanen entfernt werden, und jemand anders würde die Erlaubnis erhalten, hier zu leben. Sein Leben zu leben. Das war ein Rechtsanspruch.
Vom Fenster aus konnte er das Haus sehen, in dem er als junger Mann gewohnt hatte. Der Kommissar als junger Mann. Hier hatte er Winter und Sommer und wieder Winter erlebt, aber zu der Zeit hatte er kaum Notiz davon genommen. Er war hineinkatapultiert worden in die neue Herausforderung des Berufes, für den er sich entschieden hatte. Verbrechen. Das war sein Leben. Sein Weg zu einer Methode, einem Verhaltensrepertoire, war noch lang. Seine ganze Welt bestand aus Disziplin, er dachte wie eine Dreschmaschine, er wurde befördert. Nein, er dachte nicht wie eine Maschine. Ja, er wurde befördert. Was hatte er gedacht, als er Kommissar wurde? Hatten sie nicht gesagt, er sei der Jüngste des Landes? Siebenunddreißig Jahre. Hat es ihm etwas bedeutet? Ja. Nein.
Er wandte sich vom Fenster ab, bewegte sich über den Kunststoffboden, der seinerseits mit Plastik bedeckt war. Das Handy klingelte.
»Ja?«
»Hast du was gesehen, das ich nicht gesehen habe?«, fragte Halders.
»Diesmal ist es heller«, antwortete Winter.
»Blendend«, sagte Halders.
»Nein, im Gegenteil. Aber ich weiß nicht, wonach ich suchen soll, Fredrik. Wir haben hier alles auf den Kopf gestellt.«
»Briefe«, sagte Halders, »Fotos.«
Wörter, Bilder, alles, was von einem Leben erzählen konnte, einem vergangenen.
Er ging in die Küche, während er mit Halders telefonierte. Die Küche war genauso verhüllt wie die anderen beiden Zimmer der Wohnung.
»Vielleicht hat sie Tagebuch geschrieben«, sagte Halders.
»Das könnte im Koffer sein«, sagte Winter. »Falls es einen gibt.«
»Alles, was uns fehlt, befindet sich in diesem Koffer.«
»Trotzdem steh ich hier, und du hast auch schon hier gestanden.«
»Schau dich noch mal um«, sagte Halders.
Er schaute sich um. Die weiße Farbe war weißer denn je, eine neue Schicht oder mehrere Schichten. Zusammen mit dem Sonnenschein durchs Fenster blendete die Küche von all dem Weiß. War der Mörder
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