Zimmer Nr. 10
Mettwurst. Er wusste, dass er etwas vergessen hatte. Auf der ganzen Fahrt fünf Häuserblöcke weiter fiel es ihm nicht ein, und dann war es zu spät.
»Wo sind die Eier?« Aneta Djanali hatte die Einkaufstüte ausgepackt und die Sachen auf die Anrichte gelegt.
»Ich wusste doch, dass was fehlt.«
»Ich hab Hannes und Magda Pfannkuchen zum Abendessen versprochen«, sagte Aneta Djanali. »Ohne Eier keine Pfannkuchen.«
»Hast du’s schon mal versucht?«
»So kommst du mir nicht davon.«
»Ich geh ja schon«, sagte er.
Es war schließlich nie zu spät. Innerhalb weniger Minuten ging die Dämmerung in den Abend über. Der Abend brach an, ehe der Tag vorbei war. Der Abend und die Nacht würden in einem Monat die Herrschaft ganz übernehmen. Überall würden Adventslichter und Weihnachtskerzen brennen, einen Monat zu früh. Magda hatte ihn schon nach seiner Wunschliste gefragt. Sie fing immer frühzeitig an. Hannes würde seine Wünsche erst eine Woche vor Weihnachten abliefern, und er selber würde den Kindern seine Wunschliste übergeben, bevor der November vorbei war. Er wusste, was er sich wünschte.
Das Gehen tat ihm gut. Halders trainierte bei der Arbeit, weil es zum Dienst gehörte, aber er war schon lange nicht mehr richtig bei der Sache. Er schleppte etwas mit sich herum, das manche Wohlstandsbauch nannten, und fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Wenn dieser Winter endlich beschloss, zum Teufel zu gehen, würde er sich in die Trainingsklamotten stürzen, losziehen und den Asphalt platt treten. Vielleicht am Göteborgmarathon teilnehmen. Es der ganzen Welt zeigen.
Er trug den Eierkarton nach Hause wie den letzten Tropfen Wasser zu einem Verdurstenden.
Aneta Djanali briet die Pfannkuchen, als hätte sie jahrelang nichts anderes getan. Sie hatte noch nie Pfannkuchen gebacken, nicht zu Hause bei Halders. Er fragte sich, ob das etwas zu bedeuten hatte. Ob sie beschlossen hatte zu bleiben, nicht nur heute Nacht. Noch war sie nicht bei ihm eingezogen. Das Haus war groß genug, es bot Platz für alle. Es war ein Zuhause.
»Ist noch mehr Blaubeermarmelade da?«, fragte Hannes.
»Beides, Blaubeeren und Erdbeeren.«
»Wo hast du das gelernt, solche Pfannkuchen zu backen?«, fragte Halders.
»Natürlich zu Hause.«
»Gab’s bei euch Pfannkuchen?«
»Warum nicht? Wir mochten Pfannkuchen sehr gern.«
»Deine Eltern sind doch aus Ouagadougou in Obervolta. Ich hätte nicht gedacht, dass Pfannkuchen ihr Ding wären«, sagte Halders.
»Ihr Ding?«, wiederholte Aneta Djanali mit der Bratpfanne in der Hand. »Ihr Ding?«
»Pfannkuchen gibt’s doch überall«, mischte sich Magda ein. »Wusstest du das nicht, Papa?«
»Ich hab mehr an Blaubeermarmelade gedacht.«
»Hast du nicht«, sagte Magda.
»Dann eben Erdbeermarmelade.«
Die Gardine bewegte sich kaum merklich. Das muss die Belüftung sein, dachte er. Die Lüftungsschlitze saßen oben links neben dem Fenster.
Das Zimmer Nummer 10 hatte sich nicht verändert, seitdem er das letzte Mal hier gestanden hatte. Und seit dem ersten Mal vor achtzehn Jahren. Jedenfalls hatte er das Gefühl. Die Zeit bewegte sich in beide Richtungen und schien sich auf halbem Wege selbst zu begegnen. Als würde er dort und gleichzeitig hier stehen. Auf halbem Wege, genauso weit von der Vergangenheit entfernt wie von der Gegenwart. Gleich schwer, in beide Richtungen zu sehen. Oder gleich leicht.
Vom Fenster aus blickte er auf die Straße hinunter. Es war nicht viel zu erkennen, die schwache Straßenbeleuchtung erinnerte eher an die fünfziger Jahre als an ein neues Jahrtausend. Wenn es in den Fünfzigern so gewesen war. Da war er noch nicht geboren. Er hatte 1960 das Licht der Welt erblickt, in den Sechzigern, die bis heute das beste Jahrzehnt gewesen waren, wenn man den Zeitzeugen Glauben schenkte. Auch Ellen Börge war in den Sechzigern geboren worden, ein Jahr später als er. Wie hatte sie wohl die Zeit erlebt? Winter drehte sich um. Das Zimmer lag größtenteils im Dunkeln, die einzige Lichtquelle waren die Straßenlaternen aus den Fünfzigern draußen.
Paula Ney hatte in dieser Dunkelheit gesessen, musste hier gesessen, gewartet haben. Gelauscht. Gelitten. Dieser Brief. Winter machte ein paar Schritte in die Dunkelheit, wie zur Probe, als wollte er sie herausfordern. Es war die gleiche Dunkelheit wie damals. Sie war Zeuge von allem, was geschehen war. Es musste noch mehr Briefe geben. Aus anderen Zeiten. Warum habe ich nicht mehr Briefe von Paula gelesen? Das Erste, was
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