Zimmer Nr. 10
den Kopf. Plötzlich sah er Christer Börge vor seinem inneren Auge, mit dem Nachschlagewerk in der Hand, vor dem Bücherregal in dem unheimlichen Wohnzimmer, in dem die Zeit stehen geblieben zu sein schien. Lethargie. Das bedeutete schlafähnlicher Zustand, Winter hatte es selbst einmal nachgeschlagen. Im Augenblick hatte Jonas Sandlers Verhalten nichts Schläfriges. Vielleicht war er in einem Albtraum gefangen.
Und die Zeit im Wäldchen der Kindheit war für ihn stehen geblieben.
»Paula!«
Winter hockte sich hin. Jonas schüttelte seine Hände ab. Er hatte aufgehört zu graben. Es war nur eine flache Grube entstanden, wie eine Schale im Laub. Seine Hände waren übersät von Kratzern, einem Muster aus Kratzern. Schwarzen Kratzern in der Dunkelheit. Winter fühlte sich an die schwarzen Steine erinnert, die er vor achtzehn Jahren gefunden hatte. An die Hand, die nur Jonas gesehen hatte. Die weiße Hand, von der ihm der Junge mit großen entsetzten Augen erzählt hatte. Vielleicht sah er sie noch immer, unabhängig davon, dass sie fort war. Auch Paula war nicht hier. Doch der Junge war jetzt wie damals davon überzeugt. Was wusste er? Was hatte er getan? Was war ihm angetan worden? Was verbarg sich in dieser schwarzen Erde? Der Junge hatte angefangen, leise zu weinen. Plötzlich hörte Winter das ferne Brausen des Verkehrs auf dieser Insel, der drittgrößten des Landes. In diesem Moment fühlte sie sich sehr klein an, als bestünde sie nur aus diesem Wäldchen. Über ihnen schrie ein Vogel. Der Junge zuckte zusammen. Er starrte Winter an, als würde er ihn erst jetzt erkennen, und es war, als erwache er aus einem Albtraum. Der Junge schaute auf die Erde, als wäre auch sie Teil eines Traumes gewesen, ihm jetzt aber fremd geworden. Das war kein Spiel, keine Rolle. Er wiederholte ihren Namen nicht.
Winter tat es an seiner Stelle. »Das Mädchen, mit dem du gespielt hast, war Paula, nicht wahr?«
Jonas Sandler war ruhig, als sie in Winters Büro saßen. Das war im Augenblick geeigneter als der kalte Verhörraum, der an einen Albtraum erinnerte. Winter fürchtete, Jonas könnte in den Traum zurückkehren. Dann wäre er unerreichbar.
Das Licht über Winters Schreibtisch strahlte Wärme aus. Eine Wärme, die Jonas gut zu tun schien, und Winter spürte, wie sich auch in ihm die Eiseskälte auflöste, die er unter den Bäumen empfunden hatte. Er war direkt hierher gefahren, mit Jonas als schweigendem Passagier. Jonas’ Hände lagen auf den Knien. Die Knöchel waren mit weißen Mullbinden bandagiert. Es sah aus, als trüge er weiße Handschuhe.
»Erzählen Sie mir von Paula«, sagte Winter.
Jonas versuchte zu antworten, brachte aber kein Wort heraus. Er versuchte es noch einmal. »Es … gibt nichts zu erzählen.«
»Sie haben als Kinder zusammen gespielt.«
Jonas nickte schwach.
»Haben Sie mit Paula gespielt, als Sie Kinder waren?«
»J… ja.«
»Sind Sie sicher?«
»Ja.«
»Wieso sind Sie sicher?«
»Ich verstehe die Frage nicht.« Jonas schaute Winter an. Der Junge saß nach vorn gebeugt auf dem Stuhl, den Kopf nah an der Tischkante.
»Wieso sind Sie jetzt so sicher? Früher haben Sie behauptet, Paula vorher nicht gekannt zu haben.«
»Ich … habe sie gekannt.«
»Warum haben Sie das nicht früher gesagt, Jonas?«
»Ich weiß es nicht.«
»Sie wissen es, Jonas.«
Der Junge schaute wieder auf.
»Sie haben vor etwas Angst«, fuhr Winter fort. »Vor wem haben Sie Angst?«
Der Junge antwortete nicht.
»Hat Sie jemand bedroht?«
»Nein.«
»Fühlten Sie sich bedroht, als Sie und Paula sich wieder begegnet sind? Als Erwachsene? Wusste Paula etwas über Sie?«
»N… nein. Was sollte das sein?«
»Warum sind Sie hingefahren? Zu diesem Wäldchen?«
»Das … weiß ich nicht. Es ist … Ich weiß nicht, warum ich dort war.« Jonas suchte Winters Blick.
»Haben Sie und Paula über alte Zeiten gesprochen?«
»Ja … irgendwann mal.«
»Was?«
»Nichts Besonderes. Wir … haben uns nur erinnert.«
»Wie haben Sie sich getroffen, Jonas?«
»Das wissen Sie doch. Beim Training.«
»Wie hat sich das ergeben? Haben Sie Paula wiedererkannt?«
»Ja.«
»Einfach so?«
»Ja. Sie … war dieselbe.«
»Wie meinen Sie das, dieselbe?«
»Sie sah aus wie früher.«
»Nach achtzehn Jahren?«
»Ist das so lange her?«, fragte Jonas.
»Hat Paula Sie auch wieder erkannt?«
»Nein, zuerst nicht.«
»Wo haben Sie sich das nächste Mal getroffen?«
»Dort, beim Training. Im Fitnessstudio.«
»Nicht
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