Zimmer Nr. 10
Djanali.
»Die Eltern waren verdammt komisch«, sagte Halders ungerührt, ohne Aneta Djanali einen Blick zu gönnen.
»Sie haben gerade ihr einziges Kind verloren«, sagte Ringmar.
»Da war diese Stille bei ihnen«, fuhr Halders fort, als hätte er nicht gehört, was Ringmar gesagt hatte. »Nach so einem Höllentrauma wollen alle reden. In zehn von neun Fällen wollen die Leute reden. Können gar nicht genug reden. Nicht genug weinen. Aber bei den Neys nicht eine Träne.«
»Der Schock sitzt ihnen noch in den Gliedern«, sagte Ringmar.
»Nein.« Halders’ Gesicht hatte sich verändert. »Glaub mir, Bertil, ich habe … meine Erfahrungen. An den ersten Tagen steht man nicht unter Schock. Da gibt es nur Hass.«
Es wurde still im Raum. Alle hörten den Kaffeeautomaten seine letzten Seufzer ausstoßen. Ringmar wischte sich wieder über die Stirn. Winter lauschte dem Verkehr auf der Straße. Aneta Djanali konzentrierte sich auf die Klimaanlage, die unter der Decke traurig vor sich hin flüsterte.
Da kam Bergenhem zurück. »Kein Koffer«, sagte er.
»Sie könnte ihn in ein Schließfach gestellt haben. In Kinos gibt es manchmal Schließfächer«, sagte Halders.
»Sie haben sich vor dem Kino getroffen. Sie hatte nur ihre Handtasche dabei.«
»Sie könnte vorher reingegangen sein und ihren Koffer abgestellt haben.«
»Hinterher sind sie zusammen was trinken gegangen. In die Bar. Kein Koffer.«
»Und all das hast du sie gefragt?«, staunte Halders.
Bergenhem nickte.
»Sie könnte ihren Koffer in dem Pub abgestellt haben, bevor sie zum Kino ging«, sagte Halders.
»Nein.«
»Das hast du sie auch gefragt?«
»Nina hatte den Pub vorgeschlagen, Paula einen anderen.«
»Dann müssen wir eben dort suchen«, sagte Halders.
»Die machen um vier auf«, sagte Bergenhem.
»Das hast du auch schon überprüft?«
Bergenhem nickte wieder.
»Guter Einfall, Junge. Du hast ja Phantasie.«
»Trotzdem haben wir nur einen imaginären Koffer«, sagte Winter.
»Kann das jemand übersetzen?« Halders sah sich um.
»Sie könnte auch zum Bahnhof gegangen sein«, meinte Aneta Djanali. »Wenn sie einen Koffer hatte und für immer abhauen wollte, die Sachen aber nicht die ganze Zeit mit sich rumschleppen wollte.«
»In ihrer Handtasche war kein Schlüssel für so ein Schließfach.«
»Der Mörder könnte den Schlüssel an sich genommen haben«, sagte Ringmar. »Der Versuchung hat er vielleicht nicht widerstehen können.«
»Oder er ist ganz woanders«, sagte Aneta.
»Vielleicht ist das Schließfach noch verschlossen«, sagte Bergenhem, »und der Koffer drin.«
»Auf den Punkt wollte ich hinaus«, sagte Aneta Djanali.
»Also haben wir zwei Sachen zu tun«, erklärte Halders. »Noch einmal Paula Neys Wohnung untersuchen und feststellen, ob sie einen Koffer gepackt hat. Und herausfinden, wo er ist.«
»Und wenn es uns gelingt, ihn zu finden?«, fragte Aneta Djanali. »Das würde nichts weiter bedeuten, als dass sie wegfahren wollte. Die Eltern haben es unter Umständen nicht gewusst. Mehr muss es nicht bedeuten.«
»Es könnte aber auch bedeuten, dass sie mit jemand wegfahren wollte«, sagte Halders. »Vielleicht waren Fahrkarten in ihrer Handtasche.«
»Bald vermissen wir ziemlich viele imaginäre Sachen aus dieser Handtasche«, sagte Ringmar. »Warum nicht gleich die ganze Handtasche stehlen? Das wäre doch ein Kinderspiel für einen Mörder.«
»Das könnte bedeuten, dass die Handtasche nichts enthielt, was für ihn wichtig war«, sagte Winter.
»Mein Gerede über einen imaginären Koffer ist also nur …«, begann Halders.
»Imaginär«, ergänzte Bergenhem.
»Aber die Idee ist es wert, verfolgt zu werden«, sagte Winter. »Überprüf noch mal ihre Wohnung, Fredrik.«
Aneta Djanali las währenddessen Paula Neys letzten Brief – vorausgesetzt, es war ihr letzter Brief. Sie las laut: »… wenn ich euch verärgert habe dann möchte ich euch um Verzeihung bitten.« Sie sah auf. »Schreibt man so was in einem letzten Gruß?«
»Vielleicht wusste sie nicht, dass es ihr letzter Gruß sein würde«, sagte Ringmar.
»Und wenn sie es nun geglaubt hat. Wenn sie wusste, dass sie sterben würde. Bittet ein zum Tode Verurteilter in seiner letzten Stunde um Verzeihung?«
Niemand an dem abgenutzten Tisch kommentierte Aneta Djanalis Worte. Ein dünner Sonnenstrahl fiel plötzlich durchs Fenster und teilte den Tisch in zwei Hälften: Bergenhem und Halders auf der einen Seite, Winter, Ringmar und Aneta Djanali auf der anderen.
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