Zimmer Nr. 10
meinst, weil er aufgehört hat?«, fragte Ringmar. »Du redest doch vom Sieb?«
Winter nickte. Einar Berkander, genannt das Sieb, hatte in seiner Zeit als Polizeichef ein Verhältnis mit einer geschiedenen Journalistin gehabt. Es kam heraus, wie all das, was das Sieb in den Armen jener Dame ausgeplaudert hatte. Inzwischen war das Sieb geschieden.
»Man darf nicht vergessen, dass wir häufig die Hilfe der Presse in Anspruch nehmen«, sagte Ringmar.
»Sie ausnutzen, meinst du?«
»Wir brauchen sie.« Ringmar studierte die Überschrift noch einmal. »Steht was drin, das für uns von Nutzen sein könnte?«
»Weiß ich nicht.« Winter faltete die Zeitung zusammen und warf sie auf den Rücksitz.
Sie verließen die Tankstelle und fuhren in die Wohnsiedlung. Ringmar parkte. Winter überprüfte noch einmal die Adresse.
Im Treppenhaus roch es unbestimmt nach Essen, fade, nach einem Gericht fast ohne Gewürze. Es war der alte Treppenhausgeruch. Der neue roch entschieden würziger, nach Gewürzen aus der ganzen Welt, nach Menschen aus der ganzen Welt.
Ringmar klingelte an der Wohnungstür. Niemand öffnete. Er klingelte noch einmal. Sie meinten Schritte zu hören. Ihnen war klar, dass sie durch den Spion gemustert wurden.
Die Tür wurde zwanzig Zentimeter weit geöffnet. Sie sahen in Elisabeth Neys Gesicht.
»Ja?«
»Dürfen wir einen Moment hereinkommen, Frau Ney?«, fragte Ringmar.
Hier war kein Ausweis mehr nötig.
»Ja … Was ist?«
Sie antworteten nicht. Sie hatten schon darum gebeten, eintreten zu dürfen. Einen Moment, dachte Winter. Das ist auch so ein Ausdruck. Ein Moment kann vierundzwanzig Stunden bedeuten.
»Mein Mann ist nicht zu Hause«, sagte sie.
Im Augenblick sind sie also getrennt, dachte Winter. Wir haben Glück.
»Das macht nichts«, antwortete Ringmar.
Wie geht man vor, wenn man eine Mutter fragen möchte, wie das Verhältnis zu ihrer ermordeten Tochter wirklich gewesen war? Wie verhält man sich bei so einem Gespräch, das eigentlich ein Verhör ist?
Winter warf durch das Küchenfenster einen Blick in den Hof. Eine junge Mutter schaukelte ihre kleine Tochter. Das Mädchen lachte, je höher es hinaufschwang. Das war Winter nicht unbekannt. Er hatte Elsa jahrelang geschaukelt, und jetzt war Lilly an der Reihe.
Elisabeth Ney konnte es auch nicht unbekannt sein.
Es war nicht gut, dass sie hier saß und aus diesem Fenster schaute. Das Wohnzimmerfenster wäre besser gewesen, von dort hatte man Aussicht auf die Tankstelle, die Autobahn und das Industriegebiet auf der anderen Seite der Autobahn.
Ringmar hatte nach Paulas langer Reise vor fast zehn Jahren gefragt.
»Ich verstehe nicht, was daran interessant sein soll«, sagte Elisabeth Ney. »Das ist schon so lange her.«
»Vielleicht hat die Reise mehr zu bedeuten, als wir ahnen«, sagte Ringmar.
Elisabeth Ney antwortete nicht. Sie saß in einer steifen Haltung am Küchentisch, als ob sie nicht wüsste, was sie hier tat. Als könnte sie überall und nirgends sein. Als spielte es keine Rolle.
Winter räusperte sich diskret. »Ihr Mann wollte nicht über seine Vergangenheit sprechen«, sagte er.
Sie sah ihn an. »Das kann eigentlich nichts … mit dieser Sache zu tun haben.«
»Wir wissen es nicht«, sagte Winter. »Verstehen Sie bitte, dass wir es nicht wissen und deswegen fragen.«
Wir sind aus heiterem Himmel in dieses Familienleben geschneit. Vor einer Woche wusste ich nicht einmal, dass es jemanden namens Ney in dieser Stadt gibt. Und jetzt wollen wir alles wissen.
»Aber ich weiß es doch auch nicht«, sagte Elisabeth Ney.
»War Ihre Tochter wegen irgendetwas traurig?«, fragte Ringmar.
»Das haben Sie doch auch schon gefragt.«
»Ist erst kürzlich irgendwas vorgefallen?«
»Ich habe versucht, eine Antwort darauf zu finden. Nein. Ich weiß es nicht. Herrgott, ich WEISS es nicht.«
Winter sah Tränen in ihren Augen. »Warum wollte Paula nicht, dass Sie oder Ihr Mann ihren Freund kennen lernen?«
»Wie bitte?«
»Ihre Freundin sagt, Paula hatte einen Freund. Aber Paula hat ihn Ihnen nie vorgestellt.«
»Davon wussten wir nichts«, sagte Elisabeth Ney. »Ich weiß davon nichts.«
»Nein«, sagte Ringmar weich. »Aber warum nicht?«
»Wer ist es?« Sie sah ihn an. »Wer ist er?«
Ringmar warf Winter einen Blick zu.
»Wir wissen es nicht«, sagte Winter.
Elisabeth sah ihn an. »Sie wissen es nicht? Wie meinen Sie das? Wie können Sie dann so sicher sein, dass Paula wirklich einen Freund hatte?«
»Ihre Freundin glaubt
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