Zimmer Nr. 10
es.«
»Und Sie glauben ihr?«
»Sie war sich ziemlich sicher.«
»Wer ist er? Und warum hat er sich nicht gemeldet?« Ihr Blick ging zwischen Winter und Ringmar hin und her. »Was ist das für ein Freund, der nichts von sich hören lässt?«
Sie antworteten nicht.
Elisabeth Ney schlug die Hand vor den Mund, als wollte sie hineinbeißen. Winter sah all die schrecklichen Gefühle in ihren Augen gespiegelt. Vom Hof drang Lachen zu ihnen herauf. Es war das Mädchen. Ihr Lachen sollte nicht bis hierher zu hören sein. Die Fenster sollten ordentlich abschirmen.
»Ich dachte, dass Sie … Vielleicht … hat sie etwas von ihm erzählt«, sagte er. »Oder vielleicht haben Sie etwas geahnt.«
»Paula wohnte ja nicht mehr bei uns, nur die letzte Woche.«
Winter nickte.
Elisabeth Ney sah ihn mit stierem Blick an.
»Die letzte Woche«, wiederholte sie tonlos. »Es war ja ihre letzte Woche!«
»Frau Ney … Elisabeth …«
Sie zuckte zusammen, zuckte sichtbar zusammen. »Ihre letzte Woche …«
»Frau Ney? Brauchen Sie Hilfe? Möchten Sie mit jemandem sprechen? Frau Ney?«
Sie antwortete nicht. Mit leerem Blick stand sie auf und ging mit hängenden Schultern durch die Küche. Sie stellte sich ans Fenster.
Winter und Ringmar hatten sich ebenfalls erhoben. Winter registrierte infolge der Dämmerung jede Linie in Ringmars Gesicht, wie auf einem Schwarzweißfoto.
»Ich kann das kleine Mädchen nicht mehr hören«, sagte Elisabeth Ney. »Hat sie nicht vorhin noch gelacht?«
12
Die Wohnungstür wurde geöffnet. Ein Husten. Die Tür wurde geschlossen. Winter hörte das Echo im Treppenhaus. Elisabeth Ney schien nichts zu bemerken. Sie saßen jetzt im Wohnzimmer, Winter und Ringmar saßen. Elisabeth Ney stand am Fenster und kehrte ihnen den Rücken zu.
Aus dem Korridor kam nichts, kein »ich bin wieder da« oder »hallo« oder so was. Nur Schritte.
Mario Ney betrat das Zimmer und zuckte zusammen.
»Was zum Teufel …?«
Elisabeth Ney sagte nichts. Sie drehte nicht einmal den Kopf. Vielleicht lauschte sie immer noch nach der Stimme des kleinen Mädchens.
»Guten Abend, Herr Ney.«
Das war Ringmar. Er hatte sich erhoben. Für Winter war er nicht mehr als ein Schatten. Während sie hier gesessen hatten, war die Dämmerung hereingebrochen, und niemand hatte Licht gemacht. Für diesen Moment gab es einen altmodischen Ausdruck, mit dem man Gemütlichkeit und Ruhe verband: Schummerstunde. Das Gefühl, entspannt auf die Dunkelheit zu warten.
»Was machen Sie denn hier?!«
Winter konnte Neys Gesicht nicht erkennen.
»Elisabeth? Was machen die hier?«
Sie antwortete nicht. Ihr Blick war immer noch abwesend, vielleicht draußen auf dem Hof, vielleicht nirgends.
»Elisabeth!«
Langsam drehte sie sich um. Winter wollte aufstehen und eine Lampe anknipsen, aber er blieb sitzen. Elisabeth Neys Gesicht war deutlich zu sehen, als sie sich umdrehte, es wurde vom letzten Licht des Tages angestrahlt, bevor die Sonne hinter dem Haus auf der anderen Straßenseite unterging.
Es ist wie eine Maske, dachte er. Eine Maske, die man ihr aufgesetzt hat, um ein Loch zu verdecken. Nein. Ein anderes Gesicht?
Dann schien wieder Leben in ihren Blick zurückzukehren. Sie sah ihren Mann an und fuhr genauso zusammen, wie er beim Betreten des Zimmers zusammengezuckt war.
Winter entdeckte eine plötzliche Angst in ihrem Gesicht.
Er sah Mario Ney an. Der Mann stand einen Meter von der Schwelle entfernt. Jetzt war auch sein Gesicht deutlicher erkennbar. Es strahlte dieselbe Kraft aus wie bei ihrer ersten Begegnung. Als Winter die Nachricht vom Tod der Tochter überbracht hatte. Die Kraft war in seinem Gesicht geblieben, trotz der Trauer.
»Was machen die hier, Elisabeth?« Ney wedelte in Winters Richtung. »Ich wusste nicht, dass sie wiederkommen würden.«
»Das wusste Ihre Frau auch nicht.« Winter hatte sich erhoben. »Wir haben nur mal kurz vorbeigeschaut.«
»Warum?«
»Möchten Sie sich nicht einen Augenblick setzen?«
»Warum brennt hier kein Licht?«, fragte Ney.
»Wir haben es vergessen«, sagte Ringmar.
»Die Dämmerung kommt so schnell«, sagte Winter.
»Die Dämm… Was ist das für ein Scheißgeschwafel?« Ney machte ein paar schnelle Schritte vorwärts. »Elisabeth? Über was habt ihr geredet?«
Winter bemerkte, dass sie wieder zusammenzuckte. Und in derselben Sekunde versuchte er zu verstehen, ob vor Schock, vor Verzweiflung oder vor Angst. Wir sollten besser das Licht anmachen, ehe wir noch alle zusammenbrechen.
»Sie
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