Zimmer Nr. 10
Herr im Himmel, ich muss damit aufhören. Ich kann doch nicht dauernd rückwärts laufen.
Sie spürte einen Druck in der Magengegend, der nicht aufhörte.
Wohin soll ich gehen?
Christer Börge wirkte nicht ängstlich, als er im Verhörraum saß. Er sieht aus, als wäre er schon mal hier gewesen, dachte Winter. Aber das stimmte nicht.
Der Verhörraum hatte ein kleines Fenster, durch das Septemberlicht hereindrang. Auf dem mit Filz bezogenen Tisch stand ein Mikrofon, ähnlich einem Studiomikrofon. Der ganze Raum funktionierte wie ein Studio.
»Warum sitzen wir hier?«, fragte Börge. Das hatte er bisher nicht gefragt. Er hatte nicht viel gesagt, als Winter ihn anrief und ins Präsidium bestellte.
»Hier ist es ruhig und still«, sagte Winter.
Zunächst hatte er das Verhör nicht selbst übernehmen wollen. Er war noch kein Verhörleiter. Das verlangte Erfahrung. Aber Börge war kein Verdächtiger. Und Winter hatte ihn häufiger als jeder andere getroffen. Das konnte von Vorteil sein. Jedenfalls hatte Birgersson das zu ihm gesagt, bevor Winter ins Verhörzimmer gegangen war.
Börge wandte sich dem Licht zu, das durchs Fenster hereinfiel. Plötzlich schien er zu frieren. Er rollte die Hemdsärmel herunter und legte die Hände auf den Tisch. In dem schwachen Licht leuchteten sie auf dem grünen Filz schneeweiß, als wären sie noch nie der Sonne ausgesetzt worden. Als wären sie aus weißem Plastik oder Gips.
Nachdem die Formalitäten erledigt waren, bereitete Winter sich auf die Fragen vor. Börge schaute aus dem Fenster. Draußen war nur Himmel zu sehen. Kein Baum reichte bis hier herauf.
Winter räusperte sich. »Glauben Sie, Ihre Frau kommt zurück?«
Börge wandte ihm das Gesicht zu. »Was ist das für eine Frage?«
»Versuchen Sie, sie zu beantworten.«
»Spielt es eine Rolle, was ich glaube ?«
Glaube kann Berge versetzen, dachte Winter. Aber so darf ein Polizist nicht denken. So darf ein Pfarrer denken.
»Manchmal spielt es eine Rolle, wie man mit dem Schock fertig wird.«
»Was wissen Sie denn davon?«
»Was hat sie an dem Nachmittag, als sie die Wohnung verließ, als Letztes gesagt?«, fragte Winter.
»Daran kann ich mich nicht erinnern.«
»Versuchen Sie es.«
»Würden Sie sich daran erinnern, was Ihre Frau gesagt hat, als sie wegging, um eine Zeitung zu kaufen?«
»Denken Sie nach.«
»Worüber?«
»Was ich Sie eben gefragt habe, was Ihre Frau sagte, als sie ging.«
»Vermutlich hat sie gar nichts gesagt.«
»War das immer so?«
»Ich verstehe nicht, worauf Sie hinauswollen.«
Winter antwortete nicht.
»Wollen Sie wissen, ob sie zum Abschied was gesagt hat?«
»Ich versuche nur, Ihnen zu helfen«, sagte Winter.
» Mir zu helfen?«
»Sich zu erinnern.«
»Aber wenn es nichts gibt, an das ich mich erinnern könnte?«
Es gibt immer etwas, dachte Winter. Wenn man sich erinnern will. Du willst nicht. Und ich will wissen, warum. »Sie haben gesagt, Sie haben sich gestritten, bevor sie ging.«
Börge schwieg.
»Dass sie deswegen gegangen ist.«
»Das hab ich nie gesagt.«
»Dass es nicht das erste Mal war.«
»Jetzt machen Sie mal einen Punkt«, sagte Börge.
Winter nahm es gelassen. Bis jetzt war auch Christer Börge gelassen gewesen. Seine Antwort konnte beim Lesen des ausgedruckten Protokolls aggressiv wirken, aber sein Verhalten war nicht aggressiv. Insofern war der Ausdruck eines Verhörprotokolls unzulänglich. Die Wörter waren nur ein Teil. Manchmal hatten sie die geringere Bedeutung. Man müsste filmen können, dachte Winter. In den neunziger Jahren werden wir alles filmen.
»Hat Ihre Frau jemals gedroht, Sie zu verlassen?«
Börge zuckte zusammen. Sein Blick war schon wieder auf dem Weg zum Fenster, wanderte jedoch zu Winter zurück.
»Nein. Warum sollte sie?«
»Ihre Frau wollte Kinder. Sie wollten keine Kinder. Wäre das nicht ein Grund?«
»Nein.«
»Sie finden nicht, dass es ein Trennungsgrund ist?«
»Sie verstehen das nicht«, sagte Börge. »Haben Sie sich scheiden lassen?«
»Nein«, antwortete Winter. Er hatte sich vorgenommen, keine Fragen zu beantworten, da er hier die Fragen stellte. Wenn die verhörte Person anfing, Fragen zu stellen, hatte das Verhör eine falsche Richtung genommen. Ein Verhör war eine eingleisige Kommunikation, maskiert als Gespräch. Ein Verhörleiter durfte nie etwas von sich geben. Niemals etwas preisgeben. Nichts sagen, das ihn entlarvte. Es war ein Nehmen, niemals ein Geben. Ein Zuhören. Und gleichzeitig kam es darauf an,
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