Zimmer Nr. 10
eine Vertrauensbasis zu schaffen. Hör ihnen zu, hatte Birgersson gesagt. Alle haben etwas, das sie erzählen wollen, etwas, das rauswill, und schließlich können sie es nicht mehr zurückhalten.
»Sind Sie verheiratet?«, fragte Börge.
»Wie oft hat Ihre Frau davon gesprochen, dass sie Kinder möchte?«, fragte Winter zurück.
»Dann sind Sie also nicht verheiratet«, sagte Börge. »Heiraten Sie, dann können Sie vielleicht was lernen.«
»Was denn zum Beispiel?«, fragte Winter.
»Na ja, wie Frauen sind.« Börges Blick schweifte wieder ab zum Fenster, und diesmal erreichte er es. »So was kann man lernen.«
»Wie sind sie denn?«
»Das müssen Sie schon selbst herausfinden.« Winter hatte den Eindruck, dass Börge lächelte. »Irgendwas müssen Sie auch selbst rausfinden.«
»Meinen Sie, dass alle Frauen gleich sind?«, fragte Winter.
Börge antwortete nicht. Er schien die nicht vorhandene Aussicht zu studieren.
Winter wiederholte seine Frage.
»Das weiß ich nicht«, sagte Börge. Ihm schien der Widerspruch in seinen Worten nicht aufzufallen.
»Wie war Ihre Frau, verglichen mit anderen Frauen?«
»Sie hat mich geliebt.« Börge sah Winter wieder an. »Das ist das Einzige, was zählt, oder?«
Die Lobby lag verlassen da, als ob das Hotel bereits geschlossen hätte. Der junge Portier, der Paula Ney gefunden hatte, stand an der Rezeption. Bergström, er hieß Bergström. Das klang norrländisch, und er sprach norrländischen Dialekt. Alle da oben im Norden von Schweden hatten Namen, die auf -ström endeten, kombiniert mit etwas aus der Natur. Dort oben war es wild, es war schön. Irgendwann würde Winter nordwärts fahren, über Stockholm hinaus. Er wollte seinen Kindern zeigen, wie Schnee wirklich war. In ihrem fünfjährigen Leben hatte Elsa insgesamt zwei Wochen lang Schnee erlebt. Lilly hatte noch nie Schnee gesehen. In diesem Winter würde nun auch nichts daraus werden. Aber es kamen ja noch mehr Winter.
»Wir machen in zwei Wochen dicht«, sagte Bergström.
»Das ist aber schnell gegangen.«
Bergström zuckte mit den Schultern.
»Das Hotel wirkt schon jetzt wie geschlossen«, sagte Winter.
Bergström zuckte wieder mit den Schultern. Noch einmal, und es würde wirken wie ein Spasmus.
»Wie geht’s Ihnen damit?«, fragte Winter.
Fast hätte Bergström wieder mit den Schultern gezuckt, beherrschte sich aber. »Nicht besonders«, antwortete er.
»Eigentlich dürfte ich nicht hier sein.«
»Warum nicht?«
»Bin krankgeschrieben. Verraten Sie mich nicht bei der Krankenkasse. Salko hat Grippe, und sonst ist niemand mehr da.«
»Gibt es denn noch Gäste?«
»Ein paar dieser Vertretertypen.«
Winter sah ein schwaches Lächeln über sein Gesicht huschen. Es verschwand genauso schnell, wie es gekommen war.
»Sie können die Absperrung aufrechterhalten, bis das Hotel dichtmacht«, sagte Bergström.
»Nett von Ihnen«, sagte Winter.
»So hab ich’s nicht gemeint.«
»Ich seh mir noch mal das Zimmer an.« Winter verließ die Rezeption und ging die Treppen hinauf. Er stieg über das Absperrband und öffnete die Tür.
Dann stand er mitten im Zimmer und lauschte auf die Geräusche von draußen. Sie waren schwach, aber deutlich durch die Doppelglasscheiben zu hören.
Hatte sie den Strick selbst mitgebracht?
Hatte der Mörder ihn mitgebracht?
Kannten sie einander?
Er sah sich um. Zimmer Nummer 10. Alles hier drin war vertraut, wie in einer Zelle. Ein Ort, den man gut kennt, an dem man aber keine Sekunde seines Lebens verbringen möchte. Sein Blick wanderte hoch zu dem Balken, um den der Strick geschlungen gewesen war. Das hatte sie nicht selbst getan.
Winter hatte sie nicht hängen sehen, Bergström hatte dafür gesorgt, dass er es nicht sehen musste. Aber er hätte es sehen wollen. Was für ein abartiger Wunsch. Ich wünschte, ich hätte hier gestanden und sie am Strick hängen sehen.
Habe ich etwas gelernt? Habe ich etwas verstanden?
Er spürte wieder diesen vertrauten Schmerz im Nacken, im Schädel. Er schloss die Augen und sah, was er gleichzeitig sehen und doch nicht sehen wollte. Da spürte er einen Luftzug vom Fenster her, als hätte es jemand geöffnet, während er dastand. Als ob ihn jemand beobachtete.
Er schlug die Augen auf. Das Fenster war geschlossen. Die Tür war geschlossen. Aber er wusste, dass er wieder herkommen würde.
Er erinnerte sich an ihre Worte, an jedes einzelne: Ich liebe euch und ich werde euch immer lieben ganz gleich was auch mit mir geschieht … und
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