Zimmer Nr. 10
man nach Hause kommt.«
»Lassen Sie den Mantel auf den Fußboden fallen?«
»Der da«, sagte Halders, ohne darauf einzugehen. Er deutete auf einen Mann, der gerade einen der Trainingsräume verließ und jetzt auf sie zukam. Er schien das Training beendet zu haben. Er kam Halders bekannt vor, obwohl er ihn noch nie gesehen hatte. »Das könnte er sein.«
»Das ist er«, sagte Nina Lorrinder.
»Tausend Augen in der Nacht folgen lautlos deinem Treiben.« Halders sang leise vor sich hin, während er durch die nächtliche Stadt fuhr. »Tausend Augen auf der Wacht, wo du bist, da sollst du bleiben.«
»Wo bleiben?«, fragte Winter.
Er gewöhnte sich allmählich an Halders’ merkwürdige Gesellschaft. Absurd war es und manchmal so, als spiele man in einem Stück von Beckett mit. »Warten auf Godot«. Eine ewige Fahrt auf dem Weg von einem Nirgendwo zum anderen. Tatorte im Westen, Tatorte im Osten. Manchmal Fundorte, schlimmer noch als Tatorte. Was zum Teufel hatte das für einen Sinn? Vielleicht war es besser, sich alles mit drastischem Humor vom Leib zu halten. Wie Halders. Eine kleine Melodie inmitten des Chaos, auf dem Weg von einem Abgrund zum nächsten. Ja. Die Nacht hatte tausend Facettenaugen, sie leuchteten und blinkten da draußen. Neondämmerung am Abend, die in Neondämmerung am Morgen überging. Manchmal, wenn das Tageslicht kam, hatte er das Gefühl, einen Monat lang wach gewesen zu sein.
»Im Auto«, antwortete Halders.
»Was machen wir, wenn wir da sind?«, fragte Winter.
»Rufen Verstärkung«, sagte Halders.
»Machst du Witze?«
»Natürlich.«
Winter kannte Halders jetzt einige Monate. Sie prügelten sich nicht mehr. Sie fuhren zusammen durch die Nächte. Sie gingen zusammen mit gezogener Waffe fremde schreckliche Treppen hinauf. Bluteten zusammen, aber es war immer das Blut von jemand anders, man entging dem nicht. Blut war ihr Alltag. Er sah jede Woche Blut, in mancher Woche jeden Tag, an manchen Tagen jede Stunde. Was zum Teufel änderte das schon? Treppen hinaufzugehen, änderte das was? Die Waffe zu ziehen? Dass er dort stand, dass es ihn dort gab? Aber fast immer war es vorbei. Wenn er nur eher da gewesen wäre. Sie kamen selten zur rechten Zeit.
»Ist es hier?«
Halders drehte den Kopf. Winter warf einen Blick in seine Notizen. Er war nicht in Hisingen geboren. Sie waren weit entfernt vom Vågmästarplatsen. Wer nicht auf der Insel geboren war, fand sich hier nie zurecht. Es war, als hätte sich jedes Mal, wenn er herkam, alles verändert. Die Himmelsrichtungen stimmten nicht mehr.
Halders hatte neben einem fünfstöckigen Mietshaus angehalten. Sechs, sieben weitere gleichartige Häuser, die in einem Halbkreis aufragten wie Stacheln. Jedes Haus hatte drei Eingänge, und über jeder Haustür war eine Nummer. Winter las die Nummer in seinem Notizbuch laut ab. Halders startete erneut und fuhr an den Gebäuden entlang, die sich über das Auto zu neigen schienen. Es waren diese Schatten. Die nächtlichen Schatten waren anders, verglichen mit Schatten am Tag, es waren künstliche Schatten, die gefährlich sein konnten. Man täuschte sich in der Perspektive. Eines Nachts war Winter wegen eines falschen Schattens in die falsche Richtung gelaufen, und das hätte ein Ende nehmen können, das er sich lieber nicht ausmalen wollte.
Halders parkte so, dass man sie wahrscheinlich von den Fenstern aus nicht sehen konnte. Doch daran dachte Winter im Augenblick nicht. Er schaute an der Hausfassade hinauf. Die Fenster waren dunkel.
»Mir wär’s lieber, wenn da oben Licht wäre«, sagte Halders.
»Mir wäre es lieber, wenn es schon vorbei wäre«, entgegnete Winter, zog seine Walther und kontrollierte den Sicherungsmechanismus.
»Ich mag dich, Winter.« Halders lächelte. »Du bist so vorausblickend.«
»Was hat er gesagt, als er angerufen hat?«
»Da sei ein Wahnsinnskrach, ein wahnsinniges Getümmel.«
»Ruhiger als jetzt kann es gar nicht mehr werden.«
»Das macht einen richtig unruhig, was?«
»Vielleicht sollten wir an die Verstärkung denken, von der du eben geredet hast«, sagte Winter.
»Die gibt’s nicht. Bist du bereit?«
»Gehen wir beide?«
»Hintereinander her, du voran.«
»Warum ich?«
»Weil nur ich Augen am Hinterkopf habe«, sagte Halders.
Sie stiegen aus, eilten an der Hausfassade entlang und öffneten eine Haustür, die offenbar kein Sicherheitsschloss hatte, aber vielleicht funktionierte es auch nur nicht. Sie machten kein Licht im Treppenhaus. Hinter den
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