Zimmer Nr. 10
hier geht es ja auch hauptsächlich um Körper. Er fühlte sich nicht wohl an diesem Ort, und noch weniger hätte er sich in einem Trikot wohl gefühlt. Er ließ sein Training schleifen.
»Wie muss man denn aussehen, damit Sie sich an einen erinnern?«, fragte Halders.
Die Frau sah ihn lächelnd an. Das reichte als Antwort.
Als sie zum Café gingen, fragte er: »Würden Sie ihn wieder erkennen, wenn Sie ihm jetzt begegneten?«
»Ich glaube schon«, sagte Nina Lorrinder.
»Wirkte er gut trainiert?«
»Ich hab ihn nicht in Trainingskleidung gesehen.«
»Vielleicht hat sie ja in der Pause mit ihm gesprochen, also vor oder nach dem Training.«
»Wo standen sie?«
»Es ist ja nur einige wenige Male vorgekommen.«
»Zeigen Sie mir, wo.«
»Einmal im Café. Das hab ich doch schon gesagt.«
»Und sonst?«
»Hier. In der Halle. Dort.« Sie zeigte zum anderen Ende, wo einige Stühle und ein kleiner Tisch standen. Die Halle erstreckte sich weiter, bis hin zu mehreren Aus- oder Eingängen. Halders beobachtete, wie der Gymnastikkurs in dem Raum hinter der Glasscheibe fortgesetzt wurde. Füße, Arme, Beine in der Luft, vor und zurück, hinauf und hinunter. Hände. So gesehen waren es Hände, die durch die Luft flatterten. Nichts anderes. Nur Hände, weiß in dem grellen Licht. Halders war regelrecht geblendet von dem Licht. Er blinzelte, schloss die Augen, und als er wieder hinschaute, konnte er immer noch nicht scharf gucken. Er fragte sich, ob Nina Lorrinder hier wirklich jemanden gesehen hatte oder ob sie sich das nur einbildete. Ihre Unsicherheit war groß, irgendwie unnötig groß. Sie müsste sich genauer erinnern können. Vielleicht war es nur sein Wunschdenken: dass Paulas Bekannter ihnen helfen würde, den Mörder zu finden. Nicht, dass es Paula helfen würde. Sie war fort, weg von all den Geräuschen, dem Gestöhn, den Sprüngen, den Armbewegungen und dem blendenden Licht.
Vielleicht war es auch so, dass Nina Lorrinder unbedingt helfen wollte. Das hatte Halders schon Hunderte von Malen erlebt. Jemand wollte helfen, konnte aber nichts beitragen, was sie weiterbrachte. Das war oft kontraproduktiv, es hielt die Ermittlungen auf, die Suche. Vielleicht sollte er gar nicht hier sein. Müsste zurück in Paulas Wohnung. Weiter nach dem suchen, was sie immer noch nicht gefunden hatten.
»Wie häufig waren Sie bei Paula zu Hause?«
Sie standen bei dem Tischchen und den zerbrechlich wirkenden Stühlen. Alles hier war für leichtere Körper gedacht. Bestimmt sollte das ermutigend wirken. Ihr könnt wie wir werden. Ihr kommt hier mit Fettärschen herein und geht als Models wieder hinaus. Wir sind wie ihr gewesen, ihr werdet wie wir werden. Dieses Motto tauchte plötzlich in Halders’ Kopf auf. Er hatte es auf einem Friedhof im südlichen Spanien gelesen. Bei einem der ersten Urlaube mit Margareta. Bevor die Kinder kamen. Es war sehr heiß gewesen, im Mietwagen gab es keine Klimaanlage. Er hatte eine Weile vor dem Portal gestanden, das zum Friedhof führte, und hatte die Inschrift darüber studiert. Wir sind wie ihr gewesen, ihr werdet wie wir werden. Drinnen türmten sich schwarze Sarkophage vor dem unglaublich blauen Himmel. Ein alter Mann war vorbeigekommen und hatte ihm ungefragt den Text erklärt. Der Alte sprach Englisch wie ein Amerikaner. Das war nicht weiter verwunderlich. Er sah aus, als käme er direkt aus dem Wilden Westen. Auf dem Weg zurück nach Granada hatte Halders an die Worte über dem Portal gedacht. Sie als höhnisch empfunden.
»Ich war fast nie da«, sagte Nina Lorrinder.
»Wie?«
»Bei Paula zu Hause. Das wollten Sie doch wissen. Ich war fast nie bei ihr.«
»Wann waren Sie dort? Wie war es bei ihr?«
»Wie meinen Sie das?«
»War es gemütlich? Kuschlig? Machte sie den Eindruck, dass sie sich wohl fühlte?«
»Ja … Es gab nicht viele Möbel.«
»Braucht man die, damit man sich wohl fühlt?«
»Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich ist das auch eine Kostenfrage.«
»Aber sie kam doch gut zurecht mit ihrem Verdienst?«
»Ich glaube schon.«
»Sprach sie oft von ihrer Arbeit?«
»Nie.«
»Nie?«
»Nein, ebenso wenig, wie ich von meiner sprach.«
»Und ebenso wenig, wie ich von meiner spreche«, sagte Halders.
»Ich dachte, Polizisten reden zu Hause oft von ihrer Arbeit«, sagte Nina Lorrinder.
»Das vermeiden wir tunlichst. Aber wir denken an sie. Leider.«
»Warum leider?«
»Weil man sie am liebsten loslassen würde, wie man den Mantel auf den Fußboden fallen lässt, wenn
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