Zimmer Nr. 10
Stadt herein.
Es war die dritte Abendandacht. Er hörte nicht wirklich aufmerksam zu. Beim ersten Mal, vor vier Tagen, hatte er sich darüber gewundert, wie viele Menschen in der Kirche waren. Vielleicht hatten in der letzten Zeit mehr Menschen den Weg in die Kirche gefunden, im letzten Jahr. Vielleicht nur hierher, in die Domkirche, im Zentrum.
Der Mann in Weiß sagte etwas, das Winter nicht verstand.
Die Gemeinde sang, erhob sich und sang. Winter betrachtete sie forschend. Nina Lorrinder stand neben ihm, das Liederbuch in der Hand. Sie sang nicht mit.
Sie machte es wie er, musterte die anderen Leute. Es waren nicht genug, um sich unter ihnen verstecken zu können.
Das Lied war zu Ende. Sie setzten sich wieder.
»Heute Abend ist er auch nicht da«, flüsterte sie.
Winter nickte. Es war einen Versuch wert. Sie würden weiter hierher kommen, vielleicht nicht er, und sie konnten Nina Lorrinder nicht zwingen, Tag für Tag hier zu sein. Aber irgendwann. Eines schönen Tages.
Dann war die Andacht vorüber. Die Leute erhoben sich von den Bänken. Sie mussten sich ein wenig vorbeugen, um aus den Bankreihen zu treten. Winter behielt die Reihen schräg gegenüber im Auge, nur zehn Meter entfernt, vielleicht zwölf. Ein Mann, der allein dagesessen hatte, erhob sich, und Winter sah ihn im Profil, bevor ihm der Mann den Rücken zuwandte und die Bank auf der anderen Seite verließ. Er wählte den hinteren Gang, um die Kirche zu verlassen. Jetzt hatte Winter freien Blick auf die rechte Gesichtshälfte, aber in größerer Entfernung.
Er hatte ihn schon einmal gesehen, diesen Mann.
Das musste lange her sein. Jemand aus einer fernen Vergangenheit. Wer war es? Was war damals passiert?
Winter drehte sich nach dem Mann um, doch da war dieser hinter einem Pfeiler verschwunden, der den Ausgang verdeckte.
»Was ist?«, fragte Nina Lorrinder.
»Ich meine, jemanden erkannt zu haben.«
»Wen?«
»Ich weiß es nicht genau.« Ich hab mal mit ihm gesprochen, dachte Winter, während er sich erhob.
Ihn verhört.
Ja.
Das war er. Es war viele Jahre her.
Draußen war niemand mehr. Die Straßenbahnen an der Västra Hamngatan lösten einander ab.
»Ich fahre Sie nach Hause«, sagte Winter.
Halders besuchte zusammen mit Nina Lorrinder das Fitnessstudio um die Zeit, zu der Nina und Paula im vergangenen Jahr zwei Abende in der Woche dort trainiert hatten.
»Und vorher?«, hatte Halders gefragt, als sie die Treppen an der Västra Hamngatan hinaufgingen. »Haben Sie da nicht trainiert?«
»Manchmal, aber meistens war ich allein.«
»Warum?«
»Das weiß ich nicht. Paula ist ein bisschen gejoggt. Ich weiß es tatsächlich nicht.«
Das Studio war voller Leute. Die meisten bewegten sich oder schickten sich an, es zu tun. Es müffelte ein wenig nach Schweiß, aber noch stärker nach verschiedenen Lotions. So hat es zu meiner Zeit nicht gerochen, dachte Halders. Damals roch es nach Schweiß, Schweiß, der sich jahrzehntelang angesammelt hatte. Hier war es eher so, als würden die Körper um ihn herum zum ersten Mal Schweiß absondern, ihn aber nicht richtig loslassen wollen, als ob es gefährlich wäre zu schwitzen. In dem großen Raum hinter der Glasscheibe bewegten sich viele auf ganz verschiedene Weise, vorsichtig, übertrieben, verlegen, narzisstisch, ergonomisch richtig oder total verkehrt. Halders hätte sich vorn an Stelle des schönen Jünglings aufbauen und zeigen können, wie es wirklich aussehen musste. Nicht jetzt, aber vor zehn Jahren, als er noch in Topform gewesen war.
Er hatte sich schon einmal mit dem Personal unterhalten. Auch gemeinsam mit Nina Lorrinder. Sie hatten eine Beschreibung des Mannes dagelassen, mit dem Paula gesprochen hatte. Eine vage Beschreibung, fast unkenntlich, obwohl Nina Lorrinder meinte, ihn in der Domkirche erkannt zu haben. Bis jetzt hatte Halders die Zeugin Nina Lorrinder noch nicht mit einem Porträtzeichner zusammengebracht. Vielleicht hätte er es tun sollen, auch wenn die Methode überholt war und selten zu etwas führte.
Keiner der Angestellten konnte sich an Paula Ney erinnern. Auch an Nina Lorrinder erinnerte sich niemand.
»Wir haben ziemlich viel zu tun«, sagte eine Frau mit rotem Stirnband. Sie trug ein eng anliegendes Trikot.
Halders vermied es, ihr auf die großen Brüste zu schauen, indem er ihr Stirnband fixierte. Es würde nicht gut ankommen, wenn sie glaubte, er starre ihr aufs Dekoletté. »Da ist es nicht leicht, sich an ein Gesicht zu erinnern.«
Nein, dachte Halders,
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