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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Speisesaal zurück, als er sah, wie
Inspector Dhar die Geier aufscheuchte. Der Kellner gehörte zu den zahlreichen Inspector-Dhar-Fans,
die alle seine Filme gesehen hatten (einige sogar ein halbes dutzendmal), weshalb
man getrost behaupten durfte, daß er eine Vorliebe für primitive Gewalt und brutales
Blutvergießen hatte; ganz zu schweigen davon, daß er fasziniert war von Bombays
vulgärstem Ambiente – dem allerschäbigsten, miesesten Abschaum der Stadt, der in
allen Inspector-Dhar-Filmen ausgeschlachtet wurde. Doch als der Kellner die Schar
Geier erblickte, die der berühmte Schauspieler in die Flucht geschlagen hatte, brachte
ihn die Erkenntnis, daß sich in der Nähe des neunten Lochs eine echte Leiche befand,
gründlich aus der Fassung. Er schlich in den Club zurück, wo er von dem ältlichen
Butler, Mr. Sethna, der seinen Job Farrokhs verstorbenem Vater verdankte, mit mißbilligendem
Blick empfangen wurde.
    »Diesmal hat Inspector
Dhar eine echte Leiche gefunden!« sagte der Kellner zu dem alten Butler.
    Mr. Sethna entgegnete:
»Sie sind heute für den Ladies’ Garden eingeteilt. Bleiben Sie gefälligst auf Ihrem
Posten!«
    Der alte Mr. Sethna
mißbilligte die Inspector-Dhar-Filme. Er war ein Mensch, der grundsätzlich sehr
vieles mißbilligte – eine Eigenschaft, die seine Stellung im Duckworth Club noch
weiter festigte, wo er sich stets so verhielt, als sei er mit den Vollmachten des
Clubsekretärs ausgestattet. Mr. Sethna mit seinem mißbilligenden Stirnrunzeln herrschte
schon länger über den Speisesaal und den Ladies’ Garden, als Inspector Dhar Mitglied
im Club war – obwohl Mr. Sethna nicht immer den Duckworthianern als Butler gedient
hatte. Zuvor war er Butler im Ripon Club gewesen, einem Club, dem nur Parsen angehören
und der nicht durch die Ausübung irgendeines Sports besudelt wird. Im [46]  Ripon Club
widmete man sich ausschließlich gutem Essen und guten Gesprächen – und damit basta.
Dr. Daruwalla war auch dort Mitglied. Beide Clubs zusammen wurden seinem vielseitigen
Naturell gerecht: Da er gleichzeitig Parse und Christ war, Bürger von Bombay und Bürger von Toronto, orthopädischer
Chirurg und Sammler von Zwergenblut, hätte ein
einziger Club ihn nie zufriedenstellen können.
    Was Mr. Sethna betraf,
der aus einer Parsenfamilie ohne altes Vermögen stammte, so hatte ihm der Ripon
Club eher zugesagt als der Duckworth Club. Doch Umstände, bei denen sich sein höchst
mißbilligender Charakter Bahn brach, hatten zu seiner Entlassung geführt. Dank dieses
»höchst mißbilligenden Charakters« hatte Mr. Sethna bereits sein keineswegs altes
Vermögen eingebüßt, was keineswegs so einfach gewesen war. Dieses Geld stammte aus
der Kolonialzeit, es war britisches Geld, das Mr. Sethna jedoch derart mißbilligte,
daß er es fuchsschlau und vorsätzlich durchbrachte. Er hatte mehr als ein durchschnittliches
Menschenalter auf der Rennbahn von Mahalaxmi zugebracht, doch aus diesen Wett-Zeiten
war ihm nur die Erinnerung an das Getrappel der Pferdehufe geblieben, das er mit
seinen langen Fingern gekonnt auf dem silbernen Serviertablett nachtrommelte.
    Mr. Sethna war entfernt
mit den Guzdars verwandt, einer altehrwürdigen und vermögenden Parsenfamilie, die
Schiffe für die britische Marine gebaut und sich ihren Reichtum erhalten hatte.
Leider ergab es sich, daß ein junges Clubmitglied Mr. Sethnas empfindliche Gefühle
für seine weitläufige Familie verletzte; der gestrenge Butler hatte eine kompromittierende
Bemerkungüber die Tugendhaftigkeit einer jungen Dame aus der Familie Guzdar aufgeschnappt.
In ihrem derben Sinn für Humor ließen sich diese jungen, nichtreligiösen Parsen
auch zu einer kompromittierenden Bemerkung über die kosmische Verflechtung von Spenta
Mainyu (dem Geist Gottes bei Zarathustra) und Angra [47]  Mainyu (dem Geist des Bösen)
hinreißen und fügten hinzu, bei Mr. Sethnas entfernter Cousine habe wohl der Geist
des Sexus ihre Gunst errungen.
    Der junge Stutzer,
der dieses verbale Unheil anrichtete, trug eine Perücke – eine Eitelkeit, die Mr.
Sethna ebenfalls mißbilligte. Und deshalb goß er dem Gentleman heißen Tee auf den
Scheitel, so daß dieser aufsprang und sich in Anwesenheit seiner erstaunten Tischgenossen
buchstäblich die Haare vom Kopf riß.
    Obwohl viele Clubmitglieder
– alter Geldadel und Neureiche – Mr. Sethnas Tat für höchst ehrenwert hielten, empfanden
sie ein derartiges Verhalten bei einem Butler als ungebührlich. »Gewalttätiger

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