Zirkuskind
an
die großen Töpfe, die dampfend auf den Gasringen im Küchenzelt standen. In einem
befand sich das Wasser für den Tee, und in zwei weiteren machte der Koch die Milch
warm. Die Milch, die zuerst zum Kochen kam, war nicht für den Tee bestimmt – damit
wurde die Hafergrütze für die Schimpansen angerührt. Was den Tee anging, so mochten
ihn die Schimpansen nicht heiß, sondern lauwarm. Farrokh erinnerte sich auch an
die überzähligen Fladenbrote; die waren für die Elefanten, die eine besondere Vorliebe
für roti hatten. Und die Tiger bekamen Vitamine,
die ihre Milch rosa färbten. Freilich zog Dr. Daruwalla keinen medizinischen Nutzen
aus diesen sorgfältig gespeicherten Einzelheiten, aber nachdem er sie jahrelang
eingesogen hatte, bildeten sie für ihn so etwas wie einen familiären Hintergrund.
[53] Dr. Daruwallas
Frau hatte herrlichen Schmuck, der zum Teil von ihrer Schwiegermutter stammte. Kein
Stück davon prägte sich dem Doktor ein, während er bis in alle Einzelheiten eine
Kette aus Tigerklauen hätte beschreiben können, die Pratap Singh gehörte – er war
der Zirkusdirektor und Raubtierdompteur des Great Royal Circus, ein Mann, den Farrokh
sehr bewunderte. Pratap Singh hatte ihm einmal sein Heilmittel für Schwindelanfälle
verraten: ein Trank aus roten Chilis und verbrannten Menschenhaaren. Bei Asthma
empfahl er eine mit Tigerurin vollgesogene Gewürznelke; man läßt die Nelke trocknen,
zerreibt sie und inhaliert das Pulver. Außerdem warnte der Dompteur den Doktor davor,
jemals Barthaare von einem Tiger zu schlucken. Verschluckte Tigerbarthaare bringen
einen um, behauptete er.
Hätte Farrokh in
der ›Times of India‹ in der Kolumne irgendeines Spinners von diesen Heilmitteln
gelesen, hätte er einen vernichtenden Leserbrief geschrieben. Im Namen der seriösen
Medizin hätte Dr. Daruwalla diesen »ganzheitlichen Blödsinn« angeprangert; das war
sein bevorzugter Ausdruck für sogenanntes unwissenschaftliches oder magisches Denken.
Aber die Quelle für das Menschenhaare-und-Chili-Rezept und auch für die Behandlung
mit Tigerurin (von der Warnung vor Tigerbarthaaren ganz zu schweigen) war der große
Pratap Singh, und nach Dr. Daruwallas Ansicht war der Zirkusdirektor und Raubtierdompteur
unbestreitbar ein Mann, der sein Geschäft verstand.
Dieses überlieferte
Wissen und das Zwergenblut verstärkten Farrokhs anhaltenden Eindruck, daß er nur
deshalb ein Adoptivkind des Zirkus geworden war, weil er unfreiwillig in einem Netz
herumgezappelt und auf die arme Frau eines Zwerges geplumpst war. Daß er Deepa ungeschickt
zu Hilfe geeilt war, trug ihm dauerhafte Ehre ein. Wann immer irgendein Zirkus in
Bombay gastierte, konnte man Dr. Daruwalla in der [54] ersten Reihe finden. Man traf
ihn auch bei den Artisten und Dompteuren an, aber am allerliebsten schaute er beim
Training zu und beobachtete das Leben in der Zeltstadt. Die tiefen Einblicke vom
Sattelgang hinter der Manege aus, die Nahaufnahmen von den Wohnzelten der Truppe
und den Käfigen – alle diese Privilegien vermittelten Farrokh das Gefühl, sozusagen
adoptiert worden zu sein. Zuzeiten wünschte er sich, ein echtes Zirkuskind zu sein;
statt dessen war er wohl nur ein Ehrengast. Trotzdem war es keine belanglose Ehre
– nicht für ihn.
Bedauerlicherweise
machten die indischen Zirkusse keinerlei Eindruck auf Dr. Daruwallas Kinder und
Enkel. Diese beiden Generationen waren in London oder Toronto geboren und aufgewachsen.
Sie hatten nicht nur größere und phantastischere Zirkusse erlebt, sondern auch sauberere.
Dr. Daruwalla war enttäuscht, daß seine Kinder und Enkelkinder so hygienebesessen
waren. In ihren Augen führten die Artisten und Dompteure in ihren Zelten ein schäbiges,
ja geradezu »unterprivilegiertes« Leben. Obwohl die gestampften Böden der Zelte
mehrere Male am Tag ausgekehrt wurden, hielten Dr. Daruwallas Kinder und Enkelkinder
die Zelte für dreckig.
Für den Doktor jedoch
war der Zirkus eine ordentliche, gepflegte Oase inmitten einer Welt voller Krankheit
und Chaos. Seine Kinder und Enkelkinder fanden die zwergwüchsigen Clowns einfach
nur grotesk; im Zirkus waren sie einzig und allein dazu da, daß man über sie lachen
konnte. Aber Farrokh kam es so vor, als würden die zwergwüchsigen Clowns wirklich
geschätzt – vielleicht sogar geliebt; und obendrein waren sie ein Erfolg fürs Geschäft.
Die Kinder und Enkelkinder des Doktors fanden die Risiken, die die Kinderartisten
eingingen, besonders »hart«; in
Weitere Kostenlose Bücher