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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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allein – eine Angewohnheit, die Mr. Sethna ebenfalls mißbilligte. Er
fand, daß es Frauen in einem anständigen Club nicht gestattet sein dürfte, allein
zu speisen. Die Ehe war noch so jung, daß Mr. Dogar seiner Frau beim Lunch häufig
Gesellschaft leistete; und doch schon wieder so alt, daß er sich die Freiheit nahm,
solche Verabredungen zum Essen abzusagen, falls ihm irgend etwas Wichtigeres dazwischenkam.
Und in jüngster Zeit hatte er sich angewöhnt, in letzter Minute abzusagen, so daß
seiner Frau keine Zeit blieb umzudisponieren. Mr. Sethna hatte beobachtet, daß die
neue Mrs. Dogar ziemlich unruhig und ärgerlich wurde, wenn ihr Mann sie versetzte.
    Andererseits hatte
der Butler bei den gemeinsamen [50]  Mahlzeiten auch eine gewisse Spannung zwischen
den Jungvermählten beobachtet. Mrs. Dogar neigte dazu, ihrem Mann gegenüber, der
erheblich älter war als sie, einen scharfen Ton anzuschlagen. Für Mr. Sethna war
klar, daß mit einer solchen Strafe zu rechnen gewesen war, da er es mißbilligte,
wenn Männer jüngere Frauen heirateten. Jetzt allerdings hielt der Butler es für
das beste, diesem Frauenzimmer zur Verfügung zu stehen, um zu verhindern, daß sie
ihr Wasserglas beim nächsten Schlag mit der Gabel zerbrach. Die Gabel übrigens wirkte
in ihrer großen, sehnigen Hand erstaunlich zierlich.
    »Mein lieber Mr.
Sethna«, begann die zweite Mrs. Dogar.
    Mr. Sethna entgegnete:
»Womit kann ich der schönen Mrs. Dogar dienen?«
    »Sie können mir
sagen, was dieser ganze Wirbel zu bedeuten hat«, antwortete Mrs. Dogar.
    Mr. Sethna sprach
so bedächtig, als würde er heißen Tee einschenken. »Es ist ganz gewiß nichts, worüber
Sie sich aufregen müßten«, sagte der alte Parse. »Lediglich ein toter Golfspieler.«

[51]  2
    Die beunruhigende Nachricht
    Sie tingeln noch immer
    Vor dreißig
Jahren gab es in Indien über fünfzig Zirkusse von einigem Rang; heute sind es höchstens
noch fünfzehn, die etwas taugen. Viele von ihnen heißen der Great Sowieso. Zu denen,
die Dr. Daruwalla am liebsten mochte, gehörten der Great Bombay, der Jumbo, der
Great Golden, der Gemini, der Great Rayman, der Famous, der Great Oriental und der
Raj Kamal; am allerliebsten jedoch mochte Farrokh den Great Royal Circus. Vor der
Unabhängigkeit hieß er schlicht der Royal, 1947 wurde daraus der Great Royal. Anfangs
bestand er nur aus einem Zelt mit zwei Masten, 1947 kamen zwei weitere hinzu. Doch
eigentlich war es der Zirkusbesitzer, der Farrokh so nachhaltig beeindruckte. Da
Pratap Walawalkar ein so weitgereister Mann war, erschien er Dr. Daruwalla kultivierter
als alle anderen Zirkusbesitzer. Aber vielleicht rührte Farrokhs Zuneigung zu Pratap
Walawalkar auch einfach daher, daß dieser den Doktor nie wegen seiner Versessenheit
auf Zwergenblut hänselte.
    In den sechziger
Jahren reiste der Great Royal in der halben Welt umher. In Ägypten gingen die Geschäfte
schlecht, im Iran hervorragend; gut lief es auch in Beirut und Singapur, berichtete
Pratap Walawalkar – und von allen Ländern, die der Zirkus bereist hatte, war Bali
das schönste. Inzwischen war das Reisen zu teuer geworden. Mit seinem halben Dutzend
Elefanten und zwei Dutzend Raubkatzen, außerdem einem Dutzend Pferden und knapp
einem Dutzend Schimpansen bewegte sich der Great Royal selten über die Grenzen von
Maharashtra und Gujarat [52]  hinaus. Dazu kamen noch unzählige Kakadus und Papageien
und Dutzende von Hunden (ganz zu schweigen von den einhundertfünfzig Menschen, darunter
ein knappes Dutzend Zwerge), so daß der Great Royal Indien inzwischen nicht mehr
verließ.
    Dies ist die wahre
Geschichte von einem echten Zirkus, deren Einzelheiten Dr. Daruwalla jenem besonderen
Gedächtnis anvertraut hatte, das bei den meisten von uns der Kindheit vorbehalten
bleibt. Farrokhs Kindheit hatte keinen besonderen Eindruck bei ihm hinterlassen.
Die Geschichte und die denkwürdigen Ereignisse, die er als Beobachter hinter den
Zirkuskulissen erlebt und in sich aufgenommen hatte, bedeuteten ihm ungleich mehr.
Er erinnerte sich, daß Pratap Walawalkar einmal ganz nebenbei gesagt hatte: »Äthiopische
Löwen haben braune Mähnen, aber sie sind genau wie andere Löwen – sie gehorchen
nicht, wenn man sie nicht bei ihrem richtigen Namen ruft.« Farrokh hatte dieses
Häppchen Information im Gedächtnis behalten wie ein Detail aus einer liebgewonnenen
Gutenachtgeschichte.
    Frühmorgens, auf
dem Weg in den Operationssaal, erinnerte sich der Doktor (sogar in Kanada) oft

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