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Zirkusluft

Zirkusluft

Titel: Zirkusluft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias P. Gibert
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Beide heulten wegen des Reizgases auf und atmeten möglichst tief ein, um überhaupt Luft in ihre Lungen zu bekommen. Der meiste Teil davon bestand allerdings aus Äther und Xenon, sodass eine sofortige Bewusstseinstrübung bei ihnen eintrat.
    Die Frau hatte schon bei der ersten schnellen Bewegung geschaltet und nach ihrer Handtasche auf der Ablage vor sich gegriffen. Ihre rechte Hand war darin verschwunden und tastete nach etwas. Der linke Arm des Angreifers mit dem Stock fuhr ein Stück nach oben, senkte sich mit der Geschwindigkeit eines Fallbeils und der Wucht eines Hammers und zertrümmerte alle fünf Knochen ihrer Mittelhand. Sie schrie gellend auf, zog die Hand aus der Tasche und stierte mit schmerz- und wutverzerrtem Gesicht den Mann und seinen Stock an.
    Der Güterzug auf dem Gegengleis war vorbeigefahren, deswegen herrschte plötzlich eine gespenstische Stille im Abteil, die nur von dem leisen Gewimmer ihrer beiden Begleiter untermalt wurde, die betäubt, schwer atmend und mit den Händen vorm Gesicht dasaßen.
    »Guten Tag, Tatjana Medwedewa !«, zischte der Alte.
    Sie presste ihre blutunterlaufene, verformte Hand an die Brust und verengte die Augen zu Schlitzen.
    »Damit kommst du nicht durch, du Dreckskerl, niemals. Ich werde dich finden und zertreten wie eine Fliege im Dreck.«
    »Interessant«, antwortete der Mann. »Darauf wetten würde ich an Ihrer Stelle allerdings nicht, Verehrteste.« Damit hob er den rechten Arm, zielte mit der Spraydose auf ihr Gesicht und drückte ab. Sofort wurde die Frau von einem Hustenreiz erfasst, atmete röchelnd ein und sank in ihren Sitz zurück.

     
    »Was ist denn das?«, schrie die linke der beiden älteren Frauen. »Oh mein Gott, was ist denn das?«
    Beide starrten auf die Reisetasche des älteren Herrn in der Gepäckablage, aus der starker, weißer Qualm drang. Innerhalb von Sekunden war das Abteil in dicken, die Atemwege reizenden Rauch gehüllt.
    »Komm, Helga, das ist bestimmt eine Bombe!«, brüllte die andere mit sich überschlagender Stimme, »raus hier!«
    Beide sprangen auf und drängten in Richtung der Tür, deren Griff sie mit geschlossenen Augen ertasten mussten. Sofort drängte der Rauch, der noch immer aus der Tasche strömte, in den Gang und waberte nach allen Seiten davon.
    »Hilfe, Hilfe, eine Bombe!«, schrien beide, so laut sie konnten und stürmten in Richtung des Zugendes .
    Hätten sie nach rechts gesehen zu den Abteilen, wäre ihnen aufgefallen, dass sich im gleichen Moment der nette, schwerhörige Herr über eine leblose Frau beugte.

     
    »Du Schwein«, hauchte sie mit tonloser Stimme. »Du verdammtes Schwein.«
    Er griff in seine Manteltasche, zog die Kanüle einer Spritze heraus und nahm die Schutzkappe ab.
    »Sie hätten nicht gierig werden dürfen, Tatjana. Jeder soll sein Geschäft machen, aber nicht auf diese Art. Und nun sterben Sie wohl, Gnädigste.«
    Ihre glasigen Augen sahen ihm dabei zu, wie er ihren Kopf zur Seite legte, die Nadel zwischen Zeigefinger und Daumen der rechten Hand nahm und sich damit langsam ihrem Ohr näherte. Sie sah nicht mehr, wie er die etwa zehn Zentimeter lange Kanüle an ihrem Ohrkanal anlegte, und spürte nichts davon, als sich die Spitze durch ihr Trommelfell und die Gehörschnecke ins Gehirn schob. Nach einem letzten leichten Spasmus wurde ihr Körper schlaff.
    Der Mann zog die Nadel aus dem Kanal, nahm ein Papiertaschentuch aus der Manteltasche und wischte den kleinen Blutstreifen ab, der sich durch das Herausziehen im Ohr gebildet hatte. Dann drehte er sich um und registrierte zufrieden, dass der Gang vor dem Abteil in dichten, weißen Nebel gehüllt war. Er griff sich an den linken Backenknochen, riss mit einer schnellen Bewegung den weißen Bart herunter, nahm danach das Haarteil vom Kopf, richtete sich auf und fuhr sich durch die eigenen Haare. Bevor er nach dem silbernen Koffer neben sich griff, zog er seinen Mantel aus und von der anderen Seite wieder an. Nun trug er einen dunkelblauen Trenchcoat.

     
    Er schob die Tür auf, drängte in den Gang und nach rechts. Der Qualm wurde immer stärker, was ihn keineswegs überraschte. Er wusste, dass die Nebelkerze in der Reisetasche mindestens zwei Minuten lang Rauch produzieren würde.
    Am Eingang zum nächsten Wagen stand ein halbes Dutzend Reisende und gestikulierte. Von hinten näherte sich ein Zugbegleiter und forderte sie auf, sich aus der Gefahrenzone zu entfernen. Der Mann mit dem silbernen Koffer im Schlepptau drängte sich an der Gruppe

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