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Zirkusluft

Zirkusluft

Titel: Zirkusluft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias P. Gibert
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eine richtige Mahlzeit einnehmen wollen, kann ich Ihnen gerne einen Tisch im Speisewagen reservieren.«
    Damit schob sie die Tür zu und ging ein Abteil weiter.
    »Nett, nicht wahr«, lobte die rechte Frau den Auftritt der Zugbegleiterin.
    »Ja«, erwiderte die andere, »aber die Bahn muss ja auch was tun gegen ihr schlechtes Image.« Beide nickten.

     
    90 Minuten später hatte der Zug Wolfsburg, Braunschweig und Hildesheim passiert und nahm Kurs auf Göttingen. Der weißhaarige Mann saß noch immer in der gleichen Haltung auf seinem Sitz, und vermutlich wäre nicht einmal einem geschulten Beobachter aufgefallen, dass sein linkes Auge nicht vollständig geschlossen war und er ständig den Gang beobachtete. Zehn Minuten, bevor der Zug Göttingen erreicht haben würde, öffnete der Mann die Augen und lächelte seine Reisebegleiterinnen an.
    »Na, gut geschlafen?«, fragte die linke fröhlich und laut.
    »Ja, sehr gut, vielen Dank.«
    Er stand langsam auf, streckte sich ungelenk und beugte den Oberkörper kaum wahrnehmbar nach vorne.
    »Wenn die Damen mich entschuldigen und derweil mein Gepäckstück im Auge behalten würden?«
    »Ja, ja, gehen Sie ruhig. Wir fahren bis Freiburg und achten darauf, dass niemand sich an Ihrer Tasche zu schaffen macht. Bis dahin müssen Sie aber zurück sein.«
    »Meinen herzlichen Dank dafür«, erwiderte er galant, nahm seinen Mantel vom Haken, zog ihn über und schob die Abteiltür zurück. »Dann bis später.«

     
    Tatjana Medwedewa sah aus dem Fenster, als der alte Mann an ihrem Abteil vorbeiging. Der eine ihrer Begleiter döste, der andere telefonierte. Der Mann warf einen flüchtigen Blick in das Abteil und ging weiter Richtung Toilette. Dort schloss er sich ein, zog ein Paar schwarze Lederhandschuhe an, griff in die Innentasche seines Mantels, nahm eine Pistole und einen Schalldämpfer heraus und schraubte die beiden Teile zusammen. Als diese Arbeit erledigt war, zog er aus der anderen Manteltasche eine kleine Spraydose, schüttelte den Inhalt gut durch und steckte sie zurück. Die Pistole schob er in die speziell präparierte rechte Außentasche des Mantels. Danach hob er die Arme, streckte sich, fuhr mit den Handflächen zum Boden, verharrte dort einen Moment, kam wieder hoch und atmete tief ein. Seine Bewegungen hatten nun nichts mehr von einem alten Mann, ganz im Gegenteil. Als er aus der anderen Innentasche des Mantels einen scheckkartengroßen Funksender zog, huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Mit einer schnellen Bewegung entriegelte er die Toilettentür, schob die Klinke nach unten und warf einen vorsichtigen Blick in den Gang. Dann drückte er auf eine der Tasten.

     
    Im Abteil der beiden älteren Damen wurde in diesem Moment in der Reisetasche des Mannes ein Timer aktiviert, der 25 Sekunden später die elektrische Zündung von 550 Gramm des Nebelstoffes HC auslösen würde. Der Mann steckte den Sender zurück, atmete noch einmal tief ein, schloss kurz die Augen, griff nach der Spraydose und verließ die Toilette. Mit der linken Hand auf seinen Stock gestützt, näherte er sich der Glastür zum Gang, bediente den Öffnungstaster, machte zwei Schritte vorwärts, drehte sich nach links und stand vor Tatjana Medwedewas Abteil. Dort hatte sich nichts verändert. Die Frau sah gelangweilt aus dem Fenster, ihr Begleiter gegenüber telefonierte, der andere döste oder schlief. Der alte Mann näherte sich mit der linken Hand, die noch immer den Stock hielt, dem Türgriff und schob die Glastür nach links. Mit seinem freundlichen Gesichtsausdruck und der gebückten Haltung erweckte er offenbar keinen Argwohn bei der Frau, denn sie schenkte ihm ein herzliches Lächeln. Ihr Gegenüber nahm das Telefon ans andere Ohr und drehte den Kopf zum Fenster, nachdem er den Alten von oben bis unten gemustert hatte.
    »Hier ist leider alles besetzt«, flötete sie mit rollendem R.
    »Das ist aber…«
    In diesem Augenblick passierte ein entgegenkommender Güterzug den ICE. Die Druckwelle der Vorbeifahrt löste ein leichtes Schaukeln und eine durch die Isolierverglasung gedämpfte Schallwelle aus. Gleichzeitig explodierten die Bewegungen des alten Mannes. Die verdeckt gehaltene Spraydose in seiner rechten Hand flog hoch und traf den Mann am Fenster mit einem gezielten Strahl mitten im Gesicht. Eine Mischung aus CS-Reizgas, Xenongas und Äther ließ ihm keine Chance. Die Hand mit der Dose fuhr herum und traf den noch immer schlafenden Mann neben Tatjana Medwedewa mit dem gleichen Strahl.

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