Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zirkusluft

Zirkusluft

Titel: Zirkusluft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias P. Gibert
Vom Netzwerk:
vorbei.
    »Wir müssen stoppen!«, schrie eine Frau. »Da vorne ist eine Bombe explodiert.«
    »Wer sagt das denn?«, fragte der blau gekleidete Mitarbeiter der Bahn mit Verzweiflung und Hilflosigkeit in der Stimme.
    »Zwei Frauen, die in dem Abteil saßen. Da ist bestimmt was ganz Schreckliches passiert.«
    »Wo sind die Frauen?«
    »Die sind nach hinten gerannt, als ob der Teufel persönlich hinter ihnen her sei. Also machen Sie schon, stoppen Sie den Zug.«
    Die Rauchwolke bahnte sich, unterstützt durch die Lüftungsanlage, trotz der geschlossenen Türen ihren Weg durch den ICE. Der Zugbegleiter überlegte fieberhaft. Dann jagte er los in die Richtung, aus der er gekommen war. Am Ende des Gangs hob er den Arm, griff nach dem Hebel der Notbremse und riss daran. Schlagartig verlor der Zug an Vortrieb, um Sekundenbruchteile später mit markerschütterndem Kreischen eine Vollbremsung einzuleiten. Die Menschen, die auf den Gängen standen, flogen übereinander. Viele Reisende, die in Fahrtrichtung saßen, landeten auf dem Schoß ihres Gegenübers.

     
    Der Mann mit dem Koffer ging, nachdem er den Bereich des dicksten Qualms hinter sich gelassen hatte, langsam weiter in Richtung hinteres Ende des Zuges, sorgte jedoch dafür, sich ständig mit einer Hand irgendwo festzuhalten. Während der Notbremsung wurde er trotzdem nach vorne geschleudert und schlug hart mit dem Kopf an der Trennwand zwischen zwei Wagen an. Den Koffer hatte er währenddessen nicht losgelassen.

     
    Der ICE brauchte etwa 800 Meter bis zum Stillstand, weil er nur noch mit etwa 160 Kilometern in der Stunde auf den Bahnhof in Göttingen zugerollt war. Als er stand, brach die totale Panik aus. Menschen liefen schreiend aus den Abteilen und Großraumwagen und drängten zu den Türen, die sich jedoch nicht öffnen ließen. Die Information, dass sich im vorderen Teil des Zuges eine Bombenexplosion ereignet habe, verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Noch immer drang dichter Rauch aus dem Bereich hinter dem vorderen Triebkopf. Viele Reisende, die mit dem Qualm in Berührung gekommen waren oder ihn eingeatmet hatten, klagten über Hautirritationen und Atemprobleme. Vom Gewerbegebiet Lutteranger gegenüber des gestrandeten ICE kamen Arbeiter in Blaumännern und mit Feuerlöschern angerannt, doch sie sahen nicht, was sie löschen sollten.
    »Öffnen Sie endlich die Türen, dass wir aus diesem rasenden Sarg können!«, schrie eine der beiden Frauen, die das Abteil mit dem älteren Herrn geteilt hatten, den Zugbegleiter an, der unschlüssig in die Menge sah. »Ich brauche einen Arzt, und zwar auf der Stelle.«
    Mehrere Reisende bedrängten den Mann nun fast körperlich, sodass ihm gar nichts anderes übrig blieb, als die Türen zu öffnen.
    Danach gab es kein Halten mehr. Innerhalb von einer Minute strömten die etwa 280 Passagiere des ICE 373 auf die freie Fläche zwischen der Trasse und dem Gewerbegebiet. Manche blieben stehen, in der Hoffnung, dass sich das Ganze als Missverständnis erweisen würde. Andere stiegen mit ihrem Gepäck in der Hand über einen Zaun, traten ein paar Büsche nieder und kamen auf der anderen Seite zu den Betriebsgeländen. Unter ihnen war ein unscheinbarer, etwa 45-jähriger Mann mit rotblonden Haaren und einem dunkelblauen Trenchcoat, der langsam, fast bedächtig einen großen, silbernen, offenbar sehr schweren Rollkoffer zuerst trug und dann hinter sich herzog. An der Ecke Große Breite/Nordhoffstraße ging er über den Hof auf das Bürogebäude einer Autolackiererei zu, trat vorsichtig ein und lächelte die Sekretärin an.
    »Entschuldigung, ich hatte vor einer halben Stunde ein Taxi bestellt, das mich wohl vergessen hat. Nun ist leider der Akku meines Mobiltelefons leer. Würden Sie bitte noch einmal bei denen anrufen?«
    Die junge Frau lächelte freundlich zurück und griff zum Telefon.
    »Natürlich, kein Problem. Normalerweise sind die in zwei Minuten hier. Da ist bestimmt was Größeres schiefgegangen . Wissen Sie noch, wo Sie angerufen haben?«
    » Uups , das tut mir leid. Ich hatte mir die Nummer heute Morgen am Bahnhof ins Telefon eingespeichert.«
    »Na ja, ist ja egal. Ich rufe die an, die wir immer anrufen, wenn wir eins brauchen. Die sind wenigstens zuverlässig.«
    »Das ist sehr nett, vielen Dank.«
    Von draußen war das Heulen von Sirenen zu hören.
    »Wahrscheinlich ist wieder irgendwo was passiert«, stellte die Frau fest, nachdem sie das Taxi geordert hatte.
    »Ja, vermutlich. Vielen Dank, ich warte draußen,

Weitere Kostenlose Bücher