Zitronen im Mondschein
alte Marthe, die etwas von Geburten verstand und die alle Kinder im Zirkus mit auf die Welt gebracht hatte, hatte ihr versichert, dass sie noch Zeit hatte. »Alles noch sicher verpackt«, hatte sie am Tag vorher gesagt, nachdem sie Marias Bauch abgetastet hatte.
Maria achtete also nicht auf die Schmerzen, auch nicht, als aus dem Ziehen ein hässlicher bohrender Schmerz wurde. Ein paar Minuten lang, dann war alles wieder gut. Am Nachmittag reihten sich die Zuschauer vor dem Wahrsagerzelt auf. Es kamen nun auch im Winter Besucher in den Zirkus, seit Carlos und Silvia ihr Kuriositätenkabinett eingerichtet hatten. In drei Wohnwagen, die sie durch einen Gang miteinander verbunden hatten, präsentierten sie den Besuchern gegen einen Eintritt von dreißig Pfennig Abscheulichkeiten aus aller Welt. Ein Säugling mit zwei Köpfen, der in einem Einmachglas schwamm – Silvia hatte Maria einmal verraten, das es eigentlich ein Katzenembryo war, aber sie gaben es als menschliches Wesen aus. Ein präparierter Fuß mit sechs Zehen. Einen afrikanischen Schrumpfkopf. Der Höhepunkt der Ausstellung war der Beulenmann, der sich, nur mit einem Lendenschurz bekleidet, im letzten Wohnwagen zeigte. Es war ein Kretin, den sie einem anderen Zirkus abgekauft hatten, seine Haut war über und über mit riesigen hellblauen Geschwülsten überzogen, auch aus seinem haarlosen Hinterkopf wuchsen Beulen. Es sei aber nichts Ansteckendes, sonst hätte er selbst ja die gleiche Krankheit, versicherte Carlos den Besuchern immer.
An diesem Tag warteten sieben Leute vor dem Wahrsagerzelt, wie Mirko Maria zuflüsterte, während er den ersten Besucher hereinbrachte und ihr dabei unauffällig einen Zettel mit seinen Notizen hinschob.
Ungeduldiges Verhalten, lautes Wesen, Kleidung teils teuer, teils armselig
las sie, bevor sie eine neue Schmerzwelle überschwemmte, so heftig, dass sie sich auf die Lippen beißen musste, um nicht laut zu stöhnen. Glücklicherweise verebbte der Schmerz auch dieses Mal wieder so schnell, wie er aufgekommen waren. Sieben Besucher, dachte sie, danach kann ichmich ausruhen. Sie hob den Kopf und sah den Mann an, der ihr gegenüber saß. Ein kräftiger Kerl mittleren Alters, rotes Gesicht, dicke, grobporige Nase, vielleicht ein Säufer, aber man durfte keine voreiligen Schlüsse ziehen.
»Warum sind Sie zu mir gekommen?«, begann sie mit ihrer rauchigen Wahrsagerstimme, wobei sie ihre beiden Zeigefinger an die Schläfe legte, zum Zeichen, dass sie sich ganz auf ihn konzentrierte.
»Damit du mir die Zukunft voraussagst – warum denn sonst?«, gab er zurück.
Ungeduldiges Wesen, dachte sie, wohl wahr. »Gib mir ein wenig Zeit, damit ich meinen Geist auf dich ausrichten kann«, sagte sie. Im selben Moment durchfuhr sie ein so schneidender, furchtbarer Schmerz, dass sie laut aufschrie. Ihr Bauch war hart wie Stein.
Der Mann stieß erschrocken seinen Stuhl zurück und sprang auf. »Was zum Teufel …«
Entschuldigung, wollte sie sagen, aber sie brachte nichts als ein Röcheln heraus. Der Schmerz breitete sich immer weiter aus. Sie vergaß den Mann, der rückwärts zur Tür ging, als befürchtete er, dass sie ihn anspringen könnte, sie vergaß die Besucher vor dem Zelt, sie vergaß sich selbst. Sie krallte ihre Finger um die Tischkante und jaulte und heulte vor Entsetzen wie ein Tier, aber das schien den Schmerz noch zu beflügeln, er wuchs und wuchs ins Unermessliche, bis er plötzlich aufhörte.
Sie schnappte nach Luft. Ihr Gesicht war schweißnass. Der Mann war weg, stattdessen stand jetzt Mirko neben ihr, er sah sehr erschrocken aus. Es war eine solche Erleichterung, ihn zu sehen. »Es tut mir leid«, keuchte sie und versuchte zu lächeln, aber dann setzte der Schmerz von Neuem ein.
Sie wollte aufstehen, weil es im Sitzen unerträglich war, aber ihre Beine trugen sie nicht, also fiel sie wieder zurück auf den Stuhl, und dann spürte sie das warme Wasser an ihren Beinen, es floss in einem Schwall auf den Boden, Sturzbäche, Fluten von warmem Wasser. Mit dem Wasser strömte auch der Schmerz aus ihrem Körper heraus, sie hatte plötzlich den unsinnigen Gedanken,dass sie gar kein Kind in sich trug, sondern ein warmes Meer, sie gebar Wasser.
Die Schmerzen setzten aber nur ganz kurz aus, es war, als ob sie Anlauf holten, um sie noch furchtbarer zu attackieren.
»Ich hole Marthe«, sagte Mirko, der es irgendwie geschafft hatte, sie zur Pritsche hinten im Zelt zu bringen, denn da lag sie nun. Ihr Rock war nach oben gerutscht,
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