Zitronen im Mondschein
Klosterschule«, sagte Mirko, während Maria das Kind auf ihrem Bett ablegte. Behutsam zog sie ihr die Schuhe aus, nahm ihr den Mantel von den Schultern, deckte sie zu. Wotan tauchte aus der Dunkelheit des Zeltes auf und ließ sich wie eine reife, schwere Frucht auf die Wolldecke über dem Federbett fallen.
»Das ist es ja gerade«, sagte Maria leise, nachdem sie das Licht neben Mirabellas Bett gelöscht hatte. »Sie verkommt hier.«
»Sie verkommt hier?« Mirko ließ sich auf den Hocker am Tisch nieder.
»Sie müsste zur Schule, alle Kinder in ihrem Alter gehen zur Schule.«
»Mirabella kann bereits lesen, und sie schreibt recht ordentlich, besser als die meisten anderen in ihrem Alter.«
»Aber wie lange kannst du sie noch unterrichten?«
»Was hast du denn vor?«, fragte er zurück. »Willst du sie weggeben?«
Sie zuckte mit den Schultern und kämpfte auf einmal mit den Tränen.
»Alle hier sind im Zirkus groß geworden«, fuhr Mirko mit milderer Stimme fort. »Alle außer dir. Und aus allen ist etwas geworden, auf ihre Art.«
»Auf ihre Art«, wiederholte Maria. Ihr Ton war scharf und spöttisch, obwohl sie es gar nicht so meinte. »Schau dir Chiara an! Sie ist gerade einmal vierundzwanzig, kann kaum bis zehn zählen, und in ein paar Wochen kommt das vierte Kind. Sie wird ihr Leben lang abhängig bleiben von anderen.«
»Wer ist das nicht?«, gab Mirko zurück.
»Du weißt, was ich meine«, sagte sie scharf.
»Ich weiß, was du meinst«, meinte er ruhig. »Aber ich verstehe nicht, was du willst.«
»Das verstehe ich ja selbst nicht.«
»Maria, deine Tochter hat dich, und sie hat mich und all die anderen. Sie hat die Muttergottes. Sie ist reich, verstehst du? Es wird alles gut werden.«
Maria blickte in das große, alte, ernste Gesicht des Zwerges, dessen brauner Bart fast den Tisch berührte.
»Es wird aber doch Krieg geben«, sagte sie.
Mirabella erstaunte sie jeden Tag aufs Neue. Wie stark sie war, wie selbstsicher und kompromisslos und wie klug und stolz. Sie ist so, wie ich sein wollte, dachte Maria. Wie ich gewesen wäre, wenn mein Vater nicht jeden Widerspruch frühzeitig aus mir herausgeprügelt hätte.
Sie wünschte sich, dass ihr Vater sie sehen könnte, sie und ihre schöne Tochter. Schau, wie gut ich das gemacht habe, würde sie zu ihm sagen. Obwohl ihn das natürlich kaum beeindrucken würde.
Sie war so stolz auf Mirabella. Sie hatte solche Angst um Mirabella. Der Zirkus mochte für ein Kleinkind akzeptabel sein,aber wenn man älter wurde, brauchte man einen festen Platz im Leben.
Bevor ihr die Jungfrau erschienen war, hatte sich Maria fast dazu entschlossen, aus dem Zirkus auszusteigen, sich irgendwo in einer der Städte, durch die sie bald wieder reisen würden, eine Arbeit zu suchen. Vielleicht würde Mirko bei ihr bleiben, auch wenn das ihr Ansehen nicht gerade fördern würde. Seit Mirabella auf der Welt war, kümmerte er sich um sie. Wie ein Vater. Besser jedenfalls als der richtige Vater, der gar nicht wusste, dass er ein Kind hatte.
Aber nun wusste sie von dem großen Krieg, der im Sommer ausbrechen würde. Es war also undenkbar, dass sie jetzt den Zirkus verließen und ein neues Leben aufbauten. Oder war es gerade der richtige Zeitpunkt? Waren sie in der richtigen Welt dort draußen besser aufgehoben als in der Scheinwelt des Zirkus?
Was soll ich nur tun? dachte Maria. Wovon sollen wir leben, wenn wir den Zirkus verlassen? Sie hatte nichts gelernt außer Wahrsagen. Wir machen weiter wie bisher, versuchte sie sich zu beruhigen. Es ist doch alles gut so, wie es ist. Es wird schon irgendwie gehen. Und wenn nicht? Ihre Gedanken drehten sich im Kreis.
»Warum machst du dir solche Sorgen?«, fragte Mirko der Zwerg. »Es kommt ja doch alles anders, als man es erwartet.«
Dann wurde es Frühling, und der Zirkus zog wieder los. Mirko begann mit Mirabella zu trainieren. »Was habt ihr denn den ganzen Nachmittag gemacht?«, fragte Maria ihre Tochter, als sie sie abends zu Bett brachte.
»Mirko zeigt mir, wie man kämpft«, erklärte Mirabella stolz. Da wusste Maria, dass auch Mirko Angst hatte.
Sie dachte an die Nacht vor sieben Jahren, als sie Mirabella geboren hatte. Der Zirkus war damals im Winterlager in Heilbronn gewesen. Die Wehen hatten am frühen Morgen begonnen, zuerst als leichtes Ziehen und dann immer stärker. Sie hatte sie nicht beachtet. Es war noch zu früh, ihrer Rechnung nach hatte sie noch mindestens drei Wochen Zeit. Sie war nochnicht so weit. Auch die
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