Zitronen im Mondschein
Heilige wie die Gottesmutter, so bedeutete
lang
doch mindestens ein Jahr. Oder zwei.
Zu lang für uns. Zu lang für Mirabella, dachte Maria.
Sie selbst litt nicht unter dem Hunger. Sie war zu traurig, um zu essen. Sie war traurig, vom Aufstehen bis zum Schlafengehen, vom Montag bis zum Sonntag, vom Sommer bis zum Winter. Sie wartete darauf, dass ein Tag zu Ende ging und der nächste begann. Es war Krieg, Quirin war weg, und es regnete unablässig, so lange, bis der Regen Mitte November in Schnee überging.
Mirabella aber war hungrig. Der Regen machte sie missmutig, sie fror und langweilte sich, weil die Zirkusleute aufgehört hatten zu trainieren und weil die Besucher ausblieben. »Geht das jetzt ewig so weiter mit diesem dummen Krieg?«, fragte sie Maria und Mirko wieder und wieder. »Wann ist es endlich vorbei?«
Keiner wusste eine Antwort, außer der einen, die sie nicht mehr hören konnte. Irgendwann.
»Bis dahin wird es aber immer schlimmer«, sagte Maria zu Mirko. Sie saßen im großen Zelt mit dem Ofen, der abendsnur noch bis um acht Uhr befeuert wurde, weil kein Geld für Kohle mehr da war.
Mirko sah sie alarmiert an. »Ist dir die Jungfrau wieder erschienen? Hat sie das gesagt?«
»Das sagt mir mein Verstand. Wir haben alle kein Geld mehr. Und der Winter hat gerade einmal erst begonnen.«
»Wir müssen die Zähne zusammenbeißen und durchhalten. Was bleibt uns schon anderes übrig?«
Mirabella, dachte Maria, wenn ich sie nur rechtzeitig weggebracht hätte vom Zirkus. Überall wäre es besser als hier.
In der Nacht träumte sie von der Muttergottes. Ihr Gesicht schwebte über Maria an einer Kirchendecke, vielleicht war es das Käppele, Maria erkannte es nicht genau, denn um die Jungfrau herum war alles unscharf wie auf einer schlechten Fotografie. Die Muttergottes lächelte und war zugleich ganz ernst.
Sag mir, was ich mit Mirabella machen soll, dachte Maria im Traum.
Die Muttergottes antwortete ihr auf ihre eigene, einzigartige, unverwechselbare Art. Sie sprach kein Wort, sondern hinterließ ihre Botschaft in Marias Herzen. Vertrau auf mich, sagte sie. Ich zeige dir den Weg.
Am nächsten Morgen fuhren ein paar von ihnen nach Schramberg, weil sie gehört hatten, dass man dort billige Kohle kaufen konnte. Enrique war dabei, Pito, Domenica und Maria. Sie fanden den Kohlehändler jedoch nicht, obwohl sie die ganze Stadt absuchten und auch die umliegenden Orte, vermutlich hatte man ihnen einen Bären aufgebunden, jedenfalls kostete die Kohle in Schramberg genauso viel wie in Freiburg, und die lange Fahrt mit dem Pferdewagen hätten sie sich sparen können.
Sie fanden aber etwas anderes. Oder vielmehr war es Maria, die etwas fand, denn die anderen bemerkten gar nichts von ihrer Entdeckung und von ihrer Aufregung.
»Sieh dir das Bildlein an«, sagte sie aufgeregt zu Mirko, als sie am anderen Abend wieder zurück in Freiburg waren. »Eine Klosterschwester hat es mir in die Hand gedrückt, mitten in Schramberg, einfach so.«
»Was soll das?« Mirko drehte das Blättchen hin und her. Auf der Vorderseite war eine Abbildung der heiligen Maria, die ihren toten Sohn auf dem Schoß hielt, auf der Rückseite stand ein kurzer Text. »Wallfahrt zum Kloster Heiligenbronn«, las er laut. »Ich verstehe nicht.«
»Lies doch weiter«, sagte Maria, aber bevor er es tun konnte, hatte sie ihm den Zettel schon wieder aus der Hand genommen. »Hier«, sagte sie und zeigte dabei auf die klein gedruckten Zeilen auf der Rückseite. »Wallfahrtskirche, Gnadenkapelle, Krüppelanstalt für Blinde und Taube, Waisenheim.«
Mirko sah sie immer noch verständnislos an. Dann schien er zu begreifen.
»Du meinst, dass wir Mirabella … Sie ist keine Waise.«
»Nein, aber hier können wir nicht für sie sorgen. Und dort hätte sie alles, so lange der Krieg noch geht.«
»Ich weiß nicht.«
»Die Muttergottes wollte mir den richtigen Weg zeigen, das hat sie mir versprochen. Und nun hat sie mir den Weg gezeigt – zu diesem Kloster.«
»Ich weiß nicht«, sagte Mirko noch einmal. »Nur weil du davon geträumt hast …«
»Es war kein normaler Traum.«
»Aber es ist doch unvorstellbar, dass wir Mirabella …« Er brach mitten im Satz ab und sah sie an, so voller Unsicherheit und Zweifel, dass sie ihre Überzeugung sofort wieder verließ.
»Nein«, sagte sie. »Das geht wirklich nicht.«
Erst nach Weihnachten waren ihre Verzweiflung, die Angst und der Hunger so groß, dass Maria Mirabellas Sachen packte und mit ihren
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