Zitronen im Mondschein
geschehen war, sie erinnerte sich nur an den Waldpfad, den sie sehr langsam und vorsichtig hinuntergegangen war.
Es hatte geregnet, und die Erde war glitschig, besonders an den Stellen, an denen modrige braune Blätter lagen. Sie kam an einen kleinen Teich, mitten im Wald, das Wasser roch ein bisschen modrig, immer wenn sie an die Marienerscheinung dachte, hatte sie diesen leicht muffigen Geruch sofort wieder in der Nase.
Sie hatte ganz nah am Wasser gestanden und ihr Spiegelbild betrachtet – die verschwommenen Umrisse ihrer Figur, das hellblaue Kleid, das im Wasser viel dunkler wirkte. Darüber die gelbe Sonne wie ein zerfließender Fleck Helligkeit in der Oberfläche des Sees. Sie hörte ein Geräusch im Wald, ein Ast, der knackte, und drehte den Kopf. Als sie sich wieder zurück zum Wasser wandte, sah sie die Gottesmutter.
Es war kein verschwommenes, verzerrtes Abbild wie ihre eigene Reflektion. Das Bild der Madonna war klar und scharf. Die dunklen Brauen, sogar der Leberfleck am linken Nasenflügel.
Die Nachricht war genauso klar und eindeutig wie das Bild im See. Dennoch verstand Maria sie nicht. »Warum sollte ich das tun?«, fragte sie, nachdem ihr die Muttergottes ihre Botschaft übermittelt hatte. Ihre eigene Stimme klang laut und fremd in der Stille des Waldes.
Frag nicht! Tu, was ich dir sage, dann wirst du den Grund verstehen! hatte ihr die Gottesmutter geantwortet. Natürlich nicht in diesen Worten, sie benutzte ja keine Worte, wenn sie mit ihr redete. Trotzdem hatte sie Marias Frage verstanden und beantwortet.
Maria war zurück zum Zirkus gegangen, und in der Nacht war sie zu den Käfigen geschlichen wie eine Diebin und hatte den kleinen weißen Schneefuchs frei gelassen, denn das hatte ihr die Muttergottes befohlen. Als sie die Gittertür öffnete, zog sich der Fuchs tief in den Käfig zurück, er fletschte die Zähne und fauchte ängstlich. »Komm, du bist frei«, flüsterte Maria.
Der Fuchs hob abwechselnd die Vorderpfoten, als wäre ihm der Boden zu heiß.
»Lauf«, lockte ihn Maria, aber er floh erst, nachdem sie weg war.
Am nächsten Morgen sprach der ganze Zirkus davon, dass jemand versehentlich eine Käfigtür offen gelassen hatte. Man suchte den Fuchs überall, fand ihn jedoch nicht. »Vielleicht hat ihn absichtlich jemand rausgelassen«, mutmaßte der alte Josef.
»Warum sollte das einer tun?«, fragte die alte Esmeralda, die man kaum noch verstand, weil sie keine Zähne mehr im Mund hatte.
»Ich weiß es nicht«, murmelte Maria, und es stimmte. Sie verstand auch jetzt nicht, warum ihr die Muttergottes den Auftrag gegeben hatte.
»Sie hat aber gesagt, dass ich es begreifen würde. Hinterher«, sagte sie in anklagendem Ton zu Mirko, dem sie sich wie immer anvertraute.
»Solche Dinge können dauern«, meinte Mirko. »Die Gottesmutter ist eine Heilige, und für die Heiligen ist Zeit nichts.«
Maria dachte an den kleinen Schneefuchs, der jetzt irgendwo über die Felder irrte, hungrig und ängstlich. Wenn ihn nicht schon ein Jäger erschossen hatte.
»Irgendwann wirst du es verstehen«, sagte Mirko.
Quirin brachte sie an jenem Abend zurück zum Zirkus. Ein letztes Mal gingen sie den Weg aus der engen Stadt bis zu der Wiese, auf der die Zelte lagerten. Ein letztes Mal hielt er ihre Hand. Obwohl sie beide wussten, dass es vorbei war, hielten sie sich aus Gewohnheit an den Händen wie ein Liebespaar.
Sie sprachen kein Wort. Maria dachte darüber nach, wie sie ihr Leben ohne Quirin leben sollte. Sie hatte ihn weniger als vier Wochen gekannt, aber alles was vorher war, erschien ihr jetzt grau und wertlos. Quirin war ihre zweite große Liebe, das wurde ihr im Grunde erst jetzt bewusst, da alles aus war. Ich habe es nicht geschafft, ihn festzuhalten, dachte sie.
Er verabschiedete sich vor dem Zirkusgelände von ihr, er reichte ihr seine Hand. Seine Finger waren warm von ihren Fingern. »Es tut mir leid«, sagte er. »Ich hätte mich nie darauf einlassen dürfen. Es war vom Anfang an zum Scheitern verurteilt.«
»Das ist doch Unsinn«, meinte sie ruhig. »Es ist nichts festgelegt.«
»Es ist nichts festgelegt«, wiederholte Quirin nachdenklich, dann schüttelte er den Kopf. »Vermutlich hast du recht, es istwirklich nichts festgelegt, denn wer sollte etwas festlegen, wenn es keinen Gott gibt und keinen höheren Sinn.«
»So habe ich das aber nicht gemeint.«
»Ich weiß.« Er lächelte. »Du bist dir deiner Sache ganz sicher.«
Sie fragte sich, ob er über ihren Glauben sprach
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