Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zitronen im Mondschein

Zitronen im Mondschein

Titel: Zitronen im Mondschein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mayer Gina
Vom Netzwerk:
nicht einmal das, mutmaßte Mirabella manchmal, vielleicht tat sie nur so, als könnte sie sich nicht recht konzentrieren, damit sie die anderen in Ruhe ließen.
    Sie war Mirabella von allen Schwestern die Liebste. Denn sie behandelte Mirabella, als wäre sie eine ganz normale Schülerin und nicht die Dümmste in der Klasse, wenn man einmal von Cäcilie absah, die auch im zweiten Schuljahr noch nicht bis zehn zählen konnte.
    »Sechs und sechs ist zwölf«, skandierte Mirabella mit den anderen. »Sieben und sieben ist vierzehn.« Sie war so froh und erleichtert, dass Clementia nicht da war, obwohl sie genau wusste, dass die Bestrafung nur aufgeschoben war.
    Mittags musste sie dann auch zur Mutter Oberin, die sie lange und traurig aus verschwommenen Fischaugen musterte. »Warum hast du das getan?«, fragte sie. »Warum bist du weggelaufen?«
    »Ich muss doch einmal zurück zu meiner Mutter. Ich … sie braucht mich.«
    Die Oberin nahm ihre Brille ab und rieb sich mit dem Handrücken über die Augen, dann setzte sie sie wieder auf. »Wie kommst du darauf?«, erkundigte sie sich. »Hat sie dir geschrieben?«
    Nein, dachte Mirabella. Nicht ein einziges Mal.
    »Ich fühle es eben«, sagte sie laut.
    »Du bist ein gutes Kind«, sagte die Oberin, aber ihr Tonfall sagte etwas anderes, er sagte: Du bist ein hoffnungsloser Fall. »Deine Mutter hat dich mit gutem Grund hier bei uns abgegeben.Sie kann sich nicht um dich kümmern, sie will sich auch nicht um dich kümmern, verstehst du? Es ist Krieg, der Zirkus ist längst weitergezogen, ins Oberland, weil man sagt, dass die Dinge da besser sind, doch das stimmt nicht. Sie kommen aber bestimmt nicht wieder, und sie kann dich auch nicht brauchen.« Die Augenfische hinter den Brillengläsern schienen noch dichter an Mirabella heranzuschwimmen. »Du kannst Gott, deinem Herrn, danken, dass sie wenigstens so einsichtig war, dich hierher zu bringen. Da draußen wärst du doch ganz und gar verloren.«
    Mirabella schluckte. Ins Oberland sind sie gezogen, wollte sie fragen, wo liegt denn das Oberland? Es klang jedenfalls so, als wäre es entsetzlich weit weg. Aber während sie noch darüber nachdachte, drangen die anderen Worte der Oberin langsam in ihr Bewusstsein. Ihre Mutter würde nicht mehr wiederkommen. Das war die Botschaft, klar und unmissverständlich.
Da draußen wärst du ganz und gar verloren
, hatte die Oberin gesagt, und sie hatte recht, das wusste Mirabella nun auch, dass sie auf eigene Faust nirgendwohin kommen würde, nicht nach Freiburg und schon gar nicht ins Oberland, wo immer es auch lag.
    Sie war noch niemals so hungrig und durstig gewesen wie in den letzten beiden Tagen, bevor der Bauer sie aufgegriffen hatte. Ihre beiden Brotstücke waren schnell aufgegessen, danach hatte sie nichts als einen ledrigen Apfel zu sich genommen, den sie aus einer Scheune gestohlen hatte. Die Nacht war am schlimmsten. Diese Kälte nach dem warmen Tag und der unendliche Sternenhimmel über dem Feld. Die Sterne flimmerten zum Greifen nah, als wäre auch ihnen kalt, als wären sie dichter an die Erde herangekrochen, um sich ein bisschen zu wärmen. Mirabella hatte zuerst unter einem Baum gelegen, später hatte sie den Schuppen entdeckt und war eingestiegen, in der Hoffnung auf etwas Essbares oder eine Decke oder wenigstens ein bisschen Stroh. Aber dann hatte der Hofhund angeschlagen, und der Bauer war gekommen.
    Es ist hoffnungslos, dachte sie. Da draußen bin ich verloren. Und hier drinnen auch.

II.
    An das erste halbe Jahr im Kloster erinnerte sie sich recht gut. Danach lösten sich die einzelnen Wochen, Monate und Jahre in einem grauen Zeitstreifen auf. Mirabella aß und trank und schlief und wuchs, sie ging zur Schule, zupfte Unkraut, stach Kartoffeln, half bei der Ernte, betete Rosenkränze, und hin und wieder flehte sie die Muttergottes an, worum, wusste sie selbst nicht so recht.
    Im Exerzitienhaus war inzwischen ein Lazarett eingerichtet worden. Mit Pferdewagen wurden die verwundeten Soldaten nach Heiligenbronn gekarrt und auf Tragen ins Haus geschleppt. Wenn sie nach einigen Tagen oder Wochen dann wieder herauskamen, ging es entweder auf den Friedhof oder zurück an die Front. Schwestern mit Teetassen, Suppenterrinen oder Mullbinden umschwärmten das Lazarett wie schwarzweiße Bienen, herein und wieder heraus, aber die Kinder hatten dort nichts verloren.
    Sie wurde neun und zehn und elf. Die anderen kicherten jetzt nicht mehr, wenn Mirabella eine Antwort nicht wusste oder beim

Weitere Kostenlose Bücher