Zitronen im Mondschein
deutschen in Erinnerung rief. »Du bist gebenedeiet unter den Weibern«, murmelte sie hilflos. Die Gottesmutter blickte starr und gleichgültig über ihren toten Sohn hinweg, an Mirabella vorbei. Sie hörte Mirabella nicht, ob sie deutsch oder lateinisch zu ihr betete, ob sie das Ave Maria sprach oder ob sie sie anflehte, sie hier herauszuholen und zurück zum Zirkus zu bringen.
Morgens war man in der Schule und nachmittags auf dem Feld. Wenn Mirabella einen ganzen Nachmittag lang Kartoffeln gesteckt oder Johannisbeeren geerntet hatte, spürte sie am Abendihren Körper, wie sie ihn noch nie gespürt hatte. Sie dachte an die alte Esmeralda im Zirkus, die immer über das
Reißen
in ihrem Rücken geklagt hatte, damals hatte sich Mirabella nichts darunter vorstellen können. Jetzt wusste sie, was sie damit gemeint hatte.
Man teilte Mirabella allerdings meistens zum Gänsehüten ein, obwohl sie eigentlich zu alt dafür war. Sie hatte vierzehn Gänse, auf die sie aufpassen musste. Außerdem gab man ihr noch die vier jüngsten Waisenmädchen mit. Nur Klara blieb im Kloster, weil sie noch nicht laufen konnte. Im Gänsemarsch ging es über den Pfad zwischen den Feldern durch zur Gänseweide, zuvorderst die Gänse, dann Laurenzia, Martha, Franziska und Maria und schließlich Mirabella mit einem vollen Wassereimer. Den ganzen Nachmittag saß sie im Schatten eines Apfelbaums, manchmal musste sie eine der Gänse zurück zu den anderen treiben, manchmal schlichtete sie einen Streit zwischen den Kleinen, manchmal häkelte sie, meistens wartete sie nur darauf, dass die Glocken zum Angelus läuteten, dann durften sie wieder zurück.
Wie lang die Tage im Kloster waren, viel länger als im Zirkus! Die Zeit rann vor sich hin, wie das Wasser, das die Gänse aus dem Eimer tranken. Ein Schluck, dann reckten sie den Kopf und ließen die Tropfen den langen, weißen, dünnen Hals hinunterlaufen. So tropfte die Zeit. Und jede Stunde, jede Minute, jede Sekunde war furchtbar.
An einem dieser Nachmittage unter dem Apfelbaum beschloss Mirabella, aus dem Kloster zu fliehen. Nachdem sie lange darüber nachgedacht hatte, glaubte sie, dass ihre Mutter nicht mit Absicht weggeblieben war. Sicherlich war sie verhindert, vielleicht war sie krank und wartete irgendwo fiebrig und erschöpft darauf, dass Mirabella endlich zu ihr kam. Und Mirko wollte Maria natürlich nicht allein lassen, deshalb konnte auch er sie nicht abholen.
Wenn ihre Mutter und Mirko also nicht zu ihr kommen konnten, dann musste sie zu ihnen. Das war leichter gesagt alsgetan, denn es war Ende April, der Zirkus hatte sein Winterlager in Freiburg verlassen, und Mirabella hatte keine Ahnung, wo sie hingezogen waren.
Ich schlage mich nach Freiburg durch und mache mich von dort aus auf die Suche, dachte sie.
Es war Krieg im Land. Wer würde da auf ein kleines Mädchen achten, das ohne Begleitung unterwegs war? Die Leute hatten andere Sorgen.
Mittags und abends aß sie ihr Brot nicht auf, sondern ließ es heimlich in ihrer Schürzentasche verschwinden. Sie wollte warten, bis alle schliefen, und sich dann aus dem Schlafsaal schleichen, durch den Gang bis zum Seitengebäude, wo die Fenster nicht vergittert waren. Sie starrte gegen die Decke, die sie in der Dunkelheit nicht sehen konnte, und zählte die Sekunden, die Minuten. Bevor die anderen eingeschlafen waren, schlief sie selbst ein.
Sie befand sich oben auf dem Hochseil. Vanja hielt ihre Arme fest und Eva ihre Beine, während sie freihändig auf winzigen Fahrrädern über das Seil rasten. Mirabella blickte nach unten und sah, dass in den Rängen nur schwarz-weiße Franziskanerinnen saßen, und ganz hinten saß Pfarrer Labs, und alle schauten missbilligend zu ihr empor.
»Wo ist meine Mutter? Wo ist Mirko?«, rief sie, als die beiden Fahrräder ihre Fahrt noch beschleunigten.
»Keine Angst, wir bringen dich zu ihnen«, gab Vanja zurück, aber während er noch sprach, begannen beide Räder zur Seite zu kippen.
»Aaaaahhhh!«, schrie Eva und ließ Mirabella los, und Mirabella fiel und fiel in die schwarzweiße Schwesternmasse.
Mit einem Ruck wachte sie auf. Es war eine Stunde später als vorhin oder Mitternacht oder früher Morgen. Sie hatte keine Ahnung. Sie schob die nackten Beine aus dem Bett und spürte die kalten Holzdielen an ihren Fußsohlen. Lautlos schlüpfte sie in ihre Kleider, die Schuhe nahm sie in die Hand. Sie huschte über den Flur, an der Kammer vorbei, in der Schwester Clementia schlief. Das Fenster
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