Zitronen im Mondschein
quietschte vorwurfsvoll, als sie denFlügel aufschob. Atemlos hielt sie inne. Niemand kam, niemand rief sie an, alles war still.
Vor dem Fenster standen Obstbäume, eine dunkelgraue Finsternis füllte die Zwischenräume zwischen den knorrigen Stämmen und Ästen. Sie hockte sich auf das schmale Fensterbrett, schob die Beine nach draußen und sprang. Die Erde empfing sie mit einem festen und zugleich sanften Stoß. Sie war frei.
Nach zwei Tagen entdeckte ein Bauer sie in seinem Schuppen. Er wusste gleich, dass sie aus Heiligenbronn war, er erkannte es an der grauen Bluse und der dunkelblauen Schürze, die alle Waisenhauskinder trugen. »Sie ist eine der Taubstummen«, erklärte er seiner Frau, nachdem diese lange auf Mirabella eingeredet hatte,
was machst du hier draußen, warum bist du weggelaufen,
aber Mirabella hatte mit keinem Wort geantwortet. Wenn ich nichts sage, lassen sie mich vielleicht wieder laufen, hoffte sie, doch der Bauer selbst brachte sie zurück nach Heiligenbronn.
Schwester Dolorosa, die die Waisenhauskinder nicht von den Krüppelkindern unterscheiden konnte, weil sie den ganzen Tag an der Pforte saß, glaubte auch, dass Mirabella eine der Taubstummen war. Sie brachte Mirabella deshalb zuerst in den Seitenflügel. Die Krüppelkinder saßen an langen Schulbänken, sie waren mit Flechtarbeiten beschäftigt, als Schwester Dolorosa und Mirabella den Raum betraten. Die Tauben schauten auf und starrten Mirabella neugierig an, und die Blinden spitzten die Ohren, jedenfalls kam es Mirabella so vor.
»Das ist eine von den Waisen. Und reden kann sie auch«, sagte Schwester Liboria verächtlich, nachdem sie Mirabella eine Weile lang von oben bis unten betrachtet hatte.
»Hast du etwa geglaubt, dass du uns einfach so hereinlegen kannst«, schimpfte Schwester Dolorosa, als sie Mirabella ins Hauptgebäude führte.
Mirabella wusste genau, was sie jetzt erwartete: eine lange Strafpredigt von Schwester Clementia, während der Mirabella vorneam Pult stehen musste, das Gesicht zur Klasse, die Hände reuig gefaltet. Vielleicht würde man sie den ganzen Vormittag dort stehen lassen,
als Mahnung und Abschreckung für die anderen.
Vielleicht gäbe es Tatzen, mit dem Rohrstock in die offene Handfläche. Man würde sie zur Mutter Oberin schicken oder zu Pfarrer Labs oder zu beiden. Mirabella hielt den Kopf gesenkt, als Schwester Dolorosa sie in den Klassenraum schob.
»Hier bringe ich Ihnen Ihr verlorenes Schaf zurück«, sagte Schwester Dolorosa mit wichtiger Stimme.
»Das ist aber schön«, sagte Schwester Clementia. Die Worte passten so überhaupt nicht zu ihr, dass Mirabella erstaunt den Kopf hob. Es war gar nicht Schwester Clementia, die heute den Unterricht hielt, sondern Schwester Innozenz. »Schwester Clementia ist krank«, erklärte sie. »Setz dich auf deinen Platz. Wir üben das Zusammenzählen.«
»Sie ist ausgebrochen«, erklärte Schwester Dolorosa empört. »Ein Bauer aus Schramberg hat sie gefunden.«
Die anderen Mädchen hielten den Atem an.
»Ja«, sagte Schwester Innozenz und nickte, als käme so etwas jeden Tag vor. »Setz dich also, mein Kind. Wir üben das Zusammenzählen.«
»Das darf doch nicht sein, dass einer fortläuft und wiederkehrt, wie es ihm gerade so in den Sinn kommt«, versuchte es Schwester Dolorosa noch einmal.
Schwester Innozenz lächelte und nickte. Dann hob sie die Hände, wie ein Dirigent vor einem Orchester. »Vier und vier ist …«, begann sie.
»… acht!«, brüllten die Mädchen im Chor. Schwester Dolorosa verließ den Raum.
Schwester Innozenz war nicht schön, sie hatte ein mageres, schmales Gesicht und scharfe Falten, die von ihren Nasenflügeln aus links und rechts am Mund vorbeiliefen. Ein paar Warzen prangten auf der linken Wange. Sie war weder alt noch jung; obwohl ihre Haut faltenlos war, strahlte sie eine fahle Müdigkeit aus, wie sie für gewöhnlich Sterbende oder Greise umgab.
Von den anderen Schwestern wurde Innozenz nicht ernst genommen. Sie hörte nicht richtig hin, wenn die anderen ihr etwas auftrugen, sie erledigte ihre Aufgaben nur zur Hälfte und vergaß am Ende des Satzes, was sie am Anfang hatte sagen wollen. Deshalb hatte Schwester Innozenz auch keinen eigenen Bereich, um den sie sich allein kümmerte, sie ging den anderen nur zur Hand, arbeitete in der Küche mit, im Garten, passte auf die Krüppel auf und übernahm den Unterricht, wenn Schwester Clementia krank war. Sie war nicht dumm, sie war nur zerstreut, und vielleicht war sie
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