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Zitronen im Mondschein

Zitronen im Mondschein

Titel: Zitronen im Mondschein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mayer Gina
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Waisenhaus, sie saß stundenlang im Karzer, schlief nachts ohne Decke. Alles umsonst.
    »Die kriegen mich nicht klein«, sagte sie einmal zu Mirabella, als sie schon Freundinnen waren.
    Wie und wann ihre Freundschaft begonnen hatte, hätte keine von ihnen sagen können.
    Vielleicht hatte Ursula eine respektlose Bemerkung über eine der Schwestern gemacht, und Mirabella hatte gelacht. Vielleicht hatte Mirabella Ursula ein Stück Brot zugesteckt, als sie wieder einmal nicht mit in den Speisesaal durfte. Vielleicht hatten sie einfach gespürt, dass sie zusammengehörten.
    Sie wurden unzertrennlich. Das machte alles einfacher, auch für die Schwestern. Ursula und Mirabella gehörten zusammen, also begannen sie Ursula zu ignorieren, so wie sie Mirabella immer schon ignoriert hatten. Wenn Ursula mit dem Tischgebet an der Reihe war und vorgab, dass sie sich nicht an die Worte erinnern konnte, obwohl es nur zwei Zeilen waren,
komm , Herr Jesu, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast
, blickte die Mutter Oberin einfach über sie hinweg und fragte das nächste Kind.
    »Wie hast du es hier nur so lange ausgehalten?«, fragte Ursula Mirabella. Sie wurden immer gemeinsam zum Gänsehüten geschickt, weil Ursula zu nichts anderem taugte, genau wie Mirabella.
    Sie saßen unter dem Apfelbaum und strickten, oder vielmehr Mirabella strickte, Ursula hatte ihr Strickzeug gar nicht erst aus dem Korb genommen.
    »Ich weiß es nicht.« Mirabella wusste wirklich nicht, wie sie es geschafft hatte, all die Vormittage im Klassenzimmer, all die Nachmittage auf der Gänsewiese, all die Jahre ohne Ursula.
    »Wir müssen hier raus«, sagte Ursula.
    »Es ist sinnlos.« Mirabella erzählte ihr von ihrem ersten Ausbruchsversuch.
    »Wir müssen ja nicht gleich für immer weg. Nur für eine Nacht.«
    »Was sollten wir denn anfangen?«
    »In Waldmössingen ist Tanz.«
    »Du willst tanzen gehen?«
    »Nur zuschauen. Wenn man uns sieht, bringt man uns doch gleich wieder zurück.«
    Als die anderen schliefen, schlichen sie sich auf den Flur und kletterten aus dem Fenster im Seitenflügel. Zu Fuß brauchten sie eine Dreiviertelstunde nach Waldmössingen.
    Es fand aber kein Tanz statt, Ursula hatte sich getäuscht. Der Anger lag dunkel und verlassen da, das ganze Dorf war im Tiefschlaf. »Herrgott Sakrament«, sagte Ursula. Das war der schlimmste Fluch, den es gab, hatte ihnen Schwester Clementia erklärt, weil er das Allerheiligste beschmutzte. »Aber am zweiten Wochenende im Juli ist immer Tanz.«
    »Vielleicht ist er ausgefallen, wo doch Krieg ist«, meinte Mirabella.
    »Verdammt«, sagte Ursula. »Ich hatte eine solche Lust auf ein schönes Bier.«
    Sie brachte Mirabella zu einer einsamen Scheuer am Rande des Dorfs, dann war sie eine ganze Weile verschwunden. Als sie zurückkam, hatte sie die ganze Schürze voller schwarzer Johannisbeeren.
    »Wo hast du die denn her?«, fragte Mirabella nervös. »Die sind doch gestohlen.«
    »Und wenn? Unsere Beeren auf dem Hof frisst jetzt auch ein anderer, ohne zu fragen, ob es mir recht ist.«
    Ursula begann zu essen, Mirabella zögerte noch, aber nicht lange. Frische Beeren gab es im Kloster nie, sie bekamen nur am Sonntag einen Klecks Marmelade auf den Grießbrei.
    »Meine Großmutter hat immer einen Kuchen mit Johannisbeeren gemacht«, sagte Ursula mit vollem Mund.
    »Wo ist sie, deine Großmutter?«
    »Tot. Wie die anderen auch. Sonst wäre ich wohl kaum bei den Nonnen gelandet.«
    Die Meinen sind nicht tot, und ich bin doch bei den Nonnen gelandet, dachte Mirabella.
    »Und bei dir?«, fragte Ursula wachsam.
    »Meine Mutter wollte nichts mehr mit mir zu tun haben. Deshalb hat sie mich in Heiligenbronn abgegeben.« So deutlich hatte Mirabella das noch nie ausgesprochen. Es tat erstaunlich gut, es so hart und schonungslos zu sagen.
    »Ach, komm«, meinte Ursula ungläubig.
    »Ich war ihr einfach gleichgültig.«
    »Wenn der Krieg vorbei ist, kommt sie und holt dich.«
    »Sie kann sich zum Teufel scheren.« Auch das tat gut. Schade nur, dass ihre Mutter es nicht hören konnte, im Oberland oder im Unterland oder wo immer sie sich gerade herumtrieb. Mirabella wusste kaum noch, wie ihr Gesicht aussah, sie erinnerte sich nur noch an den roten Schal und an das kratzige Gefühl an ihren Wangen.
    »Und dein Alter?«, fragte Ursula. »Was ist mit dem?«
    »Ich habe keinen Vater.«
    »Unsinn. Jeder Mensch hat einen Vater. Hat er sich davongemacht?«
    »Vermutlich.« Mirabella schob eine letzte Johannisbeere in den

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