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Zitronen im Mondschein

Zitronen im Mondschein

Titel: Zitronen im Mondschein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mayer Gina
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Träumen erwischt wurde. Sie hatten sich längst daran gewöhnt, und im Übrigen wurde Mirabella ohnehin kaum noch aufgerufen.
    »Dein Mantel ist sehr weit und breit, er deckt die ganze Christenheit, er deckt die weite, weite Welt«, sangen die Schwestern in der Marienandacht, und genau so fühlte sich Mirabella – wie unter einem unendlich großen Mantel, unter dem alles erstickt wurde, alle Verzweiflung, alle Sehnsucht, jedes Gefühl.
    Es war, wie es war. Und es würde immer so weitergehen.
    Es wäre auch immer so weitergegangen, aber dann kam Ursula.
    Sie kam natürlich nicht freiwillig ins Kloster. Ein schnauzbärtiger Schupo brachte sie wie einen überführten Missetäterins Waisenhaus, das passte zu ihr, dass sie nicht von einem Verwandten begleitet wurde, sondern von der Polizei.
    Es war der 15. Mai 1918. Ursula war damals dreizehn, zwei Jahre älter als Mirabella.
    Ihre Mutter war gestorben, als Ursula vier Jahre alt gewesen war, danach hatte ihr Vater sie erzogen, aber eigentlich hatte er sie nicht erzogen, er hatte den Dingen einfach ihren Lauf gelassen. Dann war auch er gestorben, und Ursula hatte ihn bei Nacht und Nebel eigenhändig im Gemüsegarten begraben und über mehrere Wochen lang erfolgreich geheim gehalten, dass er tot war. Schließlich aber war man im Dorf doch dahinter gekommen, dass etwas nicht stimmte. Zuerst war der Pfarrer zu ihr gegangen, um ihr gut zuzureden. Als sie ihn mit Steinen beworfen hatte, war er geflüchtet, um später mit dem Lehrer wiederzukommen, aber auch das nützte nichts.
    Also hatte man den Schupo aus Schramberg holen müssen, und der hatte gleich beschlossen, dass Ursula nach Heiligenbronn käme. »Die guten Schwestern haben schon ganz andere Bäumchen zurechtgebogen«, meinte er.
    Dieses Wissen über Ursula breitete sich im Waisenhaus aus, kaum dass sie angekommen war. Eine Schwester sagte es der anderen, ein Kind wisperte es dem anderen zu, sogar die Krüppelkinder wussten über alles Bescheid, bevor mittags das Essen ausgeteilt wurde. Woher die Informationen kamen, hätte keiner sagen können, es war, als ob der Wind sie nach Heiligenbronn getragen hatte.
    Ursula war groß und sehr mager. Arme wie lange, dünne Äste mit Verdickungen, das waren die Ellenbogen. Die Beine nicht viel kräftiger, das erkannte man, wenn sie saß und sich ihre Schenkel unter dem Rock abzeichneten. Trotzdem wirkte Ursula keineswegs zerbrechlich. Sie war wie ein Stück Draht, biegsam, fest, unverwüstlich.
    Man setzte Ursula neben Mirabella, weil das der einzige freie Platz in der Klasse war. Vermutlich nahmen die Schwestern auch nicht an, dass sie sich anfreunden würden, so unterschiedlich wie sie waren. Am Anfang konnten sie sich auch nicht ausstehen.
    Ursula verzog ihre lange Nase, als sie Mirabellas Namen hörte. Offensichtlich fand sie ihn abscheulich.
    Ursula ist auch nicht besser, dachte Mirabella, aber auch sie sagte nichts, sie zog nicht einmal eine Grimasse. Sie dachte an den toten Vater im Gemüsegarten und an den Pfarrer, den Ursula mit Steinen beworfen hatte.
    Ursula machte ihr Angst.
    Kerzengerade und stumm saßen sie nebeneinander und hörten zu, wie Schwester Clementia von der Heiligen Anna erzählte und wie sie Maria noch im hohen Alter empfangen habe.
    »Weißt du, wie es der Mutter unserer heiligen Jungfrau weiter ergangen ist, Ursula?«, fragte Schwester Clementia mit einem milden Lächeln.
    »Man hat sie aufs Rad gebunden und mit heißem Pech übergossen«, sagte Ursula, ohne das Lächeln zu erwidern.
    »Nein«, sagte Schwester Clementia, ein bisschen enttäuscht, aber immer noch freundlich. »Da hast du etwas verwechselt.«
    »Sie wurde auf dem Scheiterhaufen verbrannt und geteert und gefedert«, schlug Ursula mit unbewegter Miene vor.
    Da merkte Schwester Clementia, dass Ursula sich über sie lustig machte. Zur Strafe musste sie im Klassenzimmer bleiben, während die anderen zu Mittag aßen.
    Der Schupo hatte sich getäuscht. Ursula war kein Bäumchen, das die Schwestern so leicht zurechtgebogen bekamen. Sämtliche Moralpredigten prallten an ihr ab, die Strafen ließen sie kalt. »Gesicht zur Klasse oder zur Wand?«, fragte sie nur, wenn Schwester Clementia sie im Klassenzimmer in die Ecke stellte. Die Klasse kicherte. Schwester Clementia haute mit dem Rohrstock auf den Tisch, aber es nützte nichts, sie hatte verloren, und das wusste sie auch. Die Strafen wurden härter, Ursula ging jeden zweiten Abend ohne Abendbrot ins Bett, sie schrubbte die Böden im ganzen

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