Zitronen im Mondschein
ihre Betten. Man durfte im Gesangbuch lesen, und man durfte schreiben, wenn einem ein Gedanke aus einem Gebet so am Herzen lag, dass man ihn bewahren wollte, oder wenn man einen Brief verfassen wollte, aber die meisten Kinder hatten niemanden, dem sie hätten schreiben können.
Mirabella schrieb ein Gedicht.
Für Margareta
begann sie.
Liebste, du , dein Angesicht
strahlt wie hellstes Sonnenlicht.
Du bist wie ein güldner Strahl
Hier in diesem Jammertal.
Deine Mirabella
Es dauerte zwei Tage, bis sie den Mut gefasst hatte, Margareta den Brief zuzustecken. Bei der Abendandacht trat sie neben sie und ließ das zusammengefaltete Blatt in ihre Schürzentasche gleiten, ohne dass Margareta etwas davon merkte.
Am nächsten Morgen ließ Schwester Clementia sie im Unterricht nach vorne treten, sie reichte ihr den Brief und befahl ihr, ihn vorzulesen. »Mit lauter Stimme, damit es auch alle hören.«
Mirabella las also vor, was sie geschrieben hatte, sie lies nur die Anrede weg.
»Und wem hast du diese Zeilen geschrieben?«, fragte Schwester Clementia in strengem Ton.
»Margareta«, gab Mirabella zurück, so leise es irgendwie ging. Sie hielt die Augen dabei gesenkt und sah Schwester Clementia nicht an und Margareta noch weniger.
»Und für wen waren die Zeilen bestimmt?«, fragte Schwester Clementia noch strenger.
Mirabella verstand nicht. Das hatte sie doch schon gesagt, doch vielleicht hatte sie zu leise gesprochen.
»Sie waren für Margareta«, meinte sie deshalb ein wenig lauter, aber Schwester Clementia war immer noch nicht zufrieden, im Gegenteil, sie wiederholte ihre Frage mit noch drohender, noch schrecklicherer Stimme.
»Die Verse waren nicht für Margareta«, donnerte sie schließlich, als Mirabella nicht antwortete, sondern nur hilflos mit den Schultern zuckte. »Sie waren für die heilige Gottesmutter. Gibst du das zu?«
Das war natürlich richtig, Mirabella hatte die Verse aus dem Gesangbuch abgeschrieben. Es war die zweite Strophe eines Marienliedes, das sie ausgewählt hatte, weil es ihre Gefühle für Margareta perfekt ausdrückte.
»Es tut mir leid«, flüsterte Mirabella, und es stimmte, was sie getan hatte, tat ihr zutiefst leid. Nicht wegen der Gottesmutter, denn die heilige Maria konnte es sicher verschmerzen, wenn man eine ihrer unzähligen Lobpreisungen einmal für jemand anderen verwendete. Um Margareta tat es ihr leid, die sie zurückgestoßen und verraten hatte. Und um ihrer selbst willen, weil sie jetzt noch einsamer war als zuvor.
Sie musste das Klassenzimmer verlassen und in die Kapelle gehen, wo sie zehn Ave Maria beten sollte. Zwei sehr alte Schwestern saßen in den Bänken, eine links, die andere rechts, sie wandten sich nicht zu Mirabella um, als sie hereinkam. Mirabella setzte sich ganz nach hinten, in größtmöglichste Entfernung zu beiden.
Die Gottesmutter hatte einen sehr großen Kopf, viel zu groß für den schmalen, kleinen Körper, die zarten Arme, die denzierlichen Heiland hielten. Um sie herum schienen die dunklen Tuffsteine aus der Wand zu quellen, es sah aus wie ein schlecht gebackener Kuchen, in den jemand aus lauter Verzweiflung Kerzen und Blumen gesteckt hatte. Die übrigen Wände der Kappelle hingen voller Votivtafeln.
Maria hat geholfen
stand auf Holzbrettchen, Baumscheiben, Pappkärtchen, über Bildern und Zeichnungen.
Maria wir danken dir. Innigen Dank der lieben Gnadenmutter.
»Ave Maria«, betete Mirabella, während sie ihre Augen fest auf die Madonna richtete. »Gratia plena.« Auf den Lippen der Muttergottes lag ein sanftes Lächeln, ihr Blick ging nachdenklich und ein bisschen gleichgültig über den Kopf ihres toten Sohnes hinweg. »Dominus tecum«, betete Mirabella, dann wusste sie nicht mehr weiter. Die alte Marthe hatte ihr das Ave Maria beigebracht, als sie noch ganz klein gewesen war, und immer wenn sie bei ihr übernachtet hatte, hatten sie es vor dem Einschlafen zusammen gesprochen. Aber auf Deutsch – »weil ich ein dummes altes Weib bin und die lateinischen Worte immer durcheinanderbringe«, hatte Marthe gesagt.
Pfarrer Labs aber hatte den Kindern erklärt, dass Latein die Sprache war, die dem Herrn wohlgefiel. Sozusagen seine Muttersprache, und wenn es seine Muttersprache war, dann gefielen lateinische Gebete der Jungfrau Maria natürlich ebenfalls besser, schließlich war sie ja seine Mutter. »Der Herr ist mit dir«, wiederholte Mirabella auf Deutsch. Vielleicht würde sie wieder auf die lateinischen Worte kommen, wenn sie sich die
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