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Zitronen im Mondschein

Zitronen im Mondschein

Titel: Zitronen im Mondschein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mayer Gina
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sie verloren. Wir müssen sie abgeben«, meinte sie, aber Ursula hörte gar nicht hin. Mit einem hellen Klirren fiel die Nadel in die Blechdose.
    Ursula legte noch einen Beutel mit Rosenblättern dazu, aber die Blätter waren nicht richtig getrocknet und begannen in der feuchten Erde zu schimmeln, so dass sie sie wieder wegwarfen.
    Nur echte Kostbarkeiten, beschlossen sie.
    Ende September lag eine graue Flussmuschel in der Dose, ein rosa Schneckenhaus und ein versteinerter Urfisch – aber vielleicht war es auch nur ein zerkratzter Stein, sie waren sich beide nicht ganz sicher. Das Beste aber war ein kleines Jesusbild. Ursula hatte es eines Nachmittags gebracht. So sehr Mirabella sie auch bedrängte, sie verriet nicht, woher sie es hatte. Der Jesus hing nackt und bloß und milde lächelnd am Kreuz, auf seiner Brust prangte wie eine Wunde ein großes blutendes Herz, und wenn man das Bildchen hin- und herdrehte, dann schillerte das Herz wie ein Rubin. Mirabella und Ursula konnten gar nicht genug bekommen von dem glänzenden, leuchtenden Herz Jesu. »Es ist die Krone unseres Schatzes«, sagte Mirabella feierlich.
    »Dieses Bild soll unsere Freundschaft beschützen«, sagte Ursula genauso andächtig. »Für immer und immer.«
    Einen Moment lang sahen sie beide schweigend auf das schillernde Herzblut.
    »Wollen wir es wirklich hier draußen lassen? Hier in der feuchten Erde?«, fragte Mirabella.
    »Es ist doch nicht in der Erde, sondern in der Dose.«
    »Trotzdem. Wenn es nun verdirbt? Es wäre doch schade.«
    »Ach Unsinn! Es gibt auch keinen anderen Ort, an dem wir es verbergen könnten.«
    »An einem Tag nimmst du es und am anderen ich.«
    »Nein«, sagte Ursula entschlossen. »Es ist hier am sichersten. Ich habe es gefunden, und ich bestimme, dass es hier bleiben soll.«
    Mirabella zuckte mit den Schultern, sie war nicht überzeugt. Der blutende Jesus war so schön und kostbar, es war verrückt, ihn bei Wind und Wetter in dieser Blechdose zu lassen. Er würde feucht werden und verschimmeln, nur weil Ursula so uneinsichtig war.
    Sie würde ihn retten. Als sie schon auf dem Rückweg ins Haus waren, lief sie unter einem Vorwand noch einmal zurück, zog die Blechschachtel unter der Wurzel hervor und holte dasBildchen heraus. Sie verbarg den Jesus in ihrer Schürzentasche. Den ganzen Tag trug sie ihn mit sich herum, und am Abend legte sie ihn unter ihr Kopfkissen. In der Dunkelheit des Schlafsaals hörte sie sein blutendes Herz in ihren Ohren pochen, ein ruhiger, langsamer Takt, und nach einiger Zeit verschmolz ihr eigener Herzschlag damit. Sie dachte an Ursula, die nur wenige Meter von ihr entfernt lag und nichts hörte und nichts ahnte. Es ist doch nicht weiter schlimm, redete sie sich ein. Ich habe es doch nur getan, um das Bildchen zu schützen. Morgen wickele ich es in ein Taschentuch und lege es wieder zurück oder vielleicht nicht gleich morgen, aber spätestens übermorgen.
     
    Es war September, die größeren Mädchen stachen Kartoffeln und ernteten Zwiebeln. Mirabella und Ursula hüteten die Gänse.
    Mirabella strickte am Rückenteil eines Pullovers, den einmal ein tapferer Soldat im Feld tragen sollte. In ihrer Schürzentasche pochte das blutende Herz. Sie trug es nun schon drei Tage bei sich, und Ursula war nichts aufgefallen, weil sie die Schatzdose bisher nicht hervorgeholt hatten. Heute muss ich es zurücklegen, dachte Mirabella, aber die Vorstellung war ihr zuwider. Warum konnte sie bloß nicht von dem Bild lassen? Es war unerklärlich. Es soll unsere Freundschaft beschützen, hatte Ursula gesagt. Und es beschützt mich, dachte Mirabella. Schwester Clementia hat mich im Unterricht kein einziges Mal aufgerufen, seit ich es bei mir trage, und Schwester Gloriosa hat heute Morgen in der Andacht nicht bemerkt, dass ich mein Gesangbuch vergessen habe.
    Ursula strickte nicht. Sie legte einen Grashalm zwischen ihre Daumen, zog ihn straff, dann führte sie die geschlossenen Hände zum Gesicht und blies in die Öffnung zwischen den Fingern. Zuerst klang der Grashalm nicht, aber als Schwester Innozenz unversehens den Pfad herunter kam, ging es doch. Ein lautes, schnarrendes, grelles Geräusch, wie ein hässliches Lachen.
    »Wie hast du das gemacht?«, fragte Schwester Innozenz.
    Ursula war so überrascht, dass ihr die Worte fehlten. Jede andere Schwester hätte sie scharf zurechtgewiesen, dass sie hierherumsaß und auf Grashalmen musizierte, statt warme Socken und Jacken für die Soldaten zu stricken. Schwester

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