Zitronen im Mondschein
stehen, bis Mirabella und Ursula ihr Strickzeug wiederaufgenommen hatten. Schwester Innozenz aber ging weiter, sie hielt sich wie immer sehr gerade, und obwohl sie ihnen den Rücken zuwandte, war sich Mirabella ganz sicher, dass ihr Gesichtsausdruck von undurchdringlicher Sanftheit war.
Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn Mirabella den Jesus mit dem blutenden Herzen wieder zurück in die Schatzdose gelegt hätte. Vielleicht hätte er dann ihre Freundschaft beschützt, wie Ursula gesagt hatte.
Sie fand jedoch einfach keine Gelegenheit dazu. Sie versuchte es mehrmals tagsüber, doch wenn sie bei ihrem Baum war, war auch Ursula immer in ihrer Nähe. Ein Mal schlich sie sich nach dem Abendbrot aus dem Haus, aber am Gartenzaun stieß sie mit Schwester Dolorosa zusammen, die gerade von der Pforte zurückkam. »Was willst du noch hier draußen?«, fragte Dolorosa.
»Ich habe mein Strickzeug draußen liegen lassen«, log Mirabella.
Schwester Dolorosa glaubte ihr jedoch nicht und begleitete sie bis zu ihrem Baum. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und sah Mirabella dabei zu, wie sie zwischen den Bäumen auf- und ablief und so tat, als suchte sie. Danach brachte sie sie zuSchwester Clementia, die ihre Zelle genau gegenüber den Mädchenschlafsälen hatte.
Während Schwester Clementia Mirabella zurechtwies und Schwester Dolorosa dazu nickte, wie der kleine Neger mit dem Schlitz im Kopf, in den sie in der Adventszeit immer ihre Groschen für die Heidenmission in Afrika steckten, ruhte Mirabellas Hand auf ihrer Schürzentasche. Dahinter schlug das blutende Jesusherz, sie fühlte das Pochen in ihrer Handfläche. Ich habe ja versucht, dich zurückzubringen, dachte sie. Aber es ging nicht.
Es sollte einfach nicht sein.
Ein paar Tage später fand Schwester Clementia das Bild.
Es geschah, als Mirabella aufgerufen wurde und für alle zur Erinnerung die 17er Reihe des großen Einmaleins aufsagen sollte, aber sie kam nur bis 34. 34 und 17 rechnete sie fieberhaft, obwohl sie es doch eigentlich auswendig wissen sollte, 34 und 17, die beiden Zahlen schwebten durch ihren Kopf, die eine hier, die andere da, und zeigten keinerlei Neigung, sich zu irgendetwas zu verbinden. Ohne dass sie es merkte, fuhr ihre Hand in ihre Schürzentasche und umfasste den blutenden Jesus, aber bevor er ihr beispringen konnte, bemerkte es Schwester Clementia. »Was hast du da in deiner Schürze?«, herrschte sie Mirabella an.
»Nichts.« Mirabella zog ihre Hand wieder heraus, aber es war schon zu spät.
Als sie Schwester Clementia das Jesusbild reichte, schnappte diese nach Luft. »Woher hast du das?«, keuchte sie. »O du böses, verderbtes Kind!«
Mirabella sah Schwester Clementia an, deren Kopf jetzt noch röter war als das rote Herz. Und dann, bevor sie darüber nachdachte, was sie tat, bevor sie sich bewusst wurde, wie dumm das war, drehte sie den Kopf und schaute zu Ursula, die längst nicht mehr neben ihr saß, sondern in die hinterste Bank versetzt worden war.
Ursulas Augen waren Kraterlöcher, ihre Lippen ein fester gerader Strich.
Mirabellas Kopf schoss wieder nach vorn.
»Woher hast du das Bild?«, fragte Schwester Clementia.
»Ich …«, begann Mirabella.
»Von mir«, sagte Ursula gleichzeitig. »Ich habe es aus Ihrem Brevier genommen.«
»Du hast es gestohlen!«
»Sie hätten es auch nicht so offen herumliegen lassen müssen. Und führe mich nicht in Versuchung, so heißt es doch. Also ist es im Grunde Ihre eigene Schuld.«
Es war nur ein kleines Bild, ein Stück Papier ohne eigentlichen Wert, aber für Ursula war es das Ende. Sie sollte das Heim verlassen, hörte Mirabella Erna und Amalia beim Abendessen wispern, die Mutter Oberin wollte sie nach Karlsruhe bringen lassen, in ein Heim für schwererziehbare Mädchen, denn hier in Heiligenbronn bekomme man sie ja nicht gezähmt. Sie solle auch noch mehr gestohlen haben, flüsterte Erna, man habe Dinge bei ihr gefunden, goldene Löffel, Schmuck und eine kostbare Bibel.
Das ist doch nicht wahr, wollte Mirabella rufen, sie hat nur das dumme Herz Jesu genommen, und wenn ich es nicht mit mir herumgetragen hätte, wäre es niemals aufgefallen. Meine Schuld, es ist alles meine Schuld. Aber sie sagte nichts, sie aß ihr Brot und trank Wasser dazu und starrte auf den leeren Platz auf der anderen Seite des Tisches.
Ursula wurde am Montag weggebracht, am Sonntag sah Mirabella sie ein letztes Mal in der Kirche. Sie saß nicht bei den Mädchen, sondern hinten zwischen den
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