Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zitronen im Mondschein

Zitronen im Mondschein

Titel: Zitronen im Mondschein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mayer Gina
Vom Netzwerk:
und senkte die Arme wie Pfarrer Labs und betete dieselben lateinischen Gebete im genau demselben Singsang. Und so wird es immer weitergehen, dachte Mirabella, bis zum Jüngsten Tag werden sie in Heiligenbronn so weitermachen. Aber ohne mich! Ich werde mit Schwester Innozenz und Ursula ein neues Leben beginnen.
    In den nächsten Tagen würden sie sich nach Karlsruhe aufmachen, sie musste nur noch mit Innozenz reden, die noch gar nichts von ihrem Plan wusste.
    »Lasst uns der Toten gedenken, die du, o Herr, in deiner unergründlichen Weisheit zu dir gerufen hast«, rief Pfarrer Wundsam und senkte seine Augen auf ein Blatt, auf dem all die Namen der toten Schwestern und Heimkinder standen, die die Grippe hinweggerafft hatte. »Schwester Ludwiga«, begann er zu rezitieren. »Schwester Clementia, Schwester Liboria, Hannelore Freikopf, Maria Possin …« Mit monotoner Stimme verlas er die Namen der Verstorbenen, in der Reihenfolge, in der sie verschieden waren. »… Schwester Maria Gratia, Cäcilie König, Ursula Wellschmied …«
    Ursula Wellschmied, dachte Mirabella zuerst geistesabwesend, dann irritiert und dann voller Entsetzen. Ursula Wellschmied – das war Ursula, ihre Ursula, aber warum las Pfarrer Wundsam ihren Namen vor? Ursula war doch gar nicht mehr hier, sie war in Karlsruhe und wartete dort darauf, dass Mirabella und Schwester Innozenz sie abholten.
    »Entschuldigung!«, rief sie.
    Pfarrer Wundsam, der schon zwei Namen weiter war, unterbrach irritiert seinen Redefluss. »Ursula Wellschmied ist doch gar nicht gestorben. Sie wurde nur weggebracht!«
    »Sie ist in ihrem neuen Zuhause in Karlsruhe verschieden, kurz nach ihrer Ankunft«, erklärte hinter ihr die Mutter Oberin in sanftem Ton, aber vielleicht war es auch gar nicht die Mutter Oberin, sondern die Muttergottes persönlich.
     
    So hatte sie sich also getäuscht. Die Jungfrau Maria hatte Mirabella gar nicht verschont, sie hatte sie nur bis zum Schluss aufgespart, um sie dann umso härter, umso furchtbarer zu treffen. Sie hatte Ursula getötet, ihre einzige Freundin.
    »Warum tust du mir das an?«, flüsterte Mirabella, die nach der Messe nicht mit den anderen Kindern in den Gemeinschaftsraum gegangen war, sondern in die Gnadenkapelle. Aus dem Rohr unter der hölzernen Pieta plätscherte das Wasser in das Tuffsteinbecken. Seit über fünfzig Jahren strömte es schon aus dem Felsen in das Becken und durch den Überlauf zurück in die Erde. Die Muttergottes hielt den großen Kopf ein wenig schief und lächelte milde und verächtlich. Hast du wirklich geglaubt, dass du mir etwas bedeutest?
    »Warum tut sie mir das an?«, fragte Mirabella den toten Jesus, der in den Armen seiner Mutter hing, die Augen fest geschlossen, den Kopf aufgerichtet, als stützte ihn eine unsichtbare Hand.
    »Könnt ihr mich überhaupt hören?«, fragte Mirabella mit heiserer Stimme in den leeren Raum hinein.
    Die Muttergottes schwieg. Der tote Jesus schwieg auch.
    »Warum gebt ihr mir kein Zeichen?«, fragte Mirabella ein wenig lauter. »Wenn es euch gibt, dann gebt mir ein Zeichen.«
    Kein Sonnenstrahl bahnte sich seinen Weg durch die bunten Glasfenster auf Mirabellas Gesicht. Kein Vogel flatterte zwitschernd herein. Die Stille wurde ein wenig lauter, das war alles.
    Es gibt keinen Gott, erkannte Mirabella plötzlich. Das war die Antwort, die alles erklärende, die alles verändernde, unendlich tröstende Antwort auf all ihre Fragen. Es gab keinen Gott und keinen eingeborenen, auferstandenen Sohn und keinen heiligen Geist und keine Jungfrau, die an ihrer Seite thronte. Es waren alles Lügen und Hirngespinste, die sich die Menschenausgedacht hatten, weil sie sich nicht damit abfinden wollten, dass das Leben auf Erden ein Selbstzweck war, dass die Guten kein ewiges Leben erwartete und die Bösen keine Hölle.
    Die Jungfrau Maria hatte Mirabella nicht gerächt, aber sie hatte sie auch nicht missachtet oder gar bestraft. Die Jungfrau Maria war eine tote Figur aus Holz, ein Götzenbild.
    Alles, was geschehen war – der Krieg und die Grippe und die vielen, vielen Toten –, war sinnlos und willkürlich und zufällig. Es gab keine tiefere Weisheit, keine heilige Fügung, die sich hinter den Dingen verbarg. Was passierte, passierte. Man wurde geboren und lebte, und früher oder später starb man wieder, ohne dass irgendein göttlicher Plan dahinter stand. Und das war gut so, denn da sie das nun endlich wusste, musste sie sich nicht mehr fragen, warum Gott die einen so auszeichnete, mit

Weitere Kostenlose Bücher