Zitronen im Mondschein
Nonnen, als habe man Angst, dass sie die anderen mit ihrer Verderbtheit ansteckte.
Mirabella drehte sich mehrmals zu ihr um. Sie suchte Ursulas Blick, aber die Einzige, die zurückschaute, war Schwester Clementia, die von Mal zu Mal wütender wurde.
Ursula wirkte wie ein Strich zwischen der runden Schwester Ludwiga und der kräftigen Clementia. Wie ein zorniges Ausrufezeichen. Ihre braunen Haare struppig und stumpf zwischen den glänzend schwarz-weißen Hauben.
»Misereatur nostri omnipotens deus, et dimissis peccatis nostris«, betete Pfarrer Labs am Altar. Dabei hob er die Arme, so dass sich seine grün-weißen Ärmel wie Flügel ausbreiteten. Mirabella drehte sich wieder zu Ursula um.
Schau mich an, schau mich an, nur ein einziges Mal, betete sie.
Aber Ursula erhörte sie nicht.
Schwester Ludwiga war die Erste, die krank wurde. Nach ihr ergriff das Fieber Schwester Urbania, Schwester Latburga, Schwester Ludwiga, Schwester Dolorosa und viele andere, und am Ende erkrankte sogar die Mutter Oberin, die sich allerdings schnell wieder erholte. Von den Schwestern und Kandidatinnen starben am Ende neunzehn, außerdem vierzehn Mädchen aus dem Waisenhaus und sieben von den Krüppelkindern.
Die Krankheit verlief in allen Fällen gleich. Der Hals begann zu schmerzen, und man schwitzte wie bei einer gewöhnlichen Grippe. Dann kamen die Kopfschmerzen, und das Fieber stieg höher, man schüttelte sich vor Kälte und hustete, und manche bekamen Nasenbluten. Nach zwei oder drei Tagen war die Sache entweder ausgestanden, oder es ging weiter, dann halfen auch Waden- und Brustwickel nichts mehr, dann musste man sterben.
In diesem Fall ging der Husten in eine Lungenentzündung über. Man begann zu röcheln und Blut zu spucken, und bevor man es endlich hinter sich hatte, verfärbte sich das ganze Gesicht. »Das kommt von der Atemnot«, flüsterte Schwester Virgine, während sie hintereinander an der blauschwarzen Schwester Ludwiga in der Totenhalle vorbeidefilierten. Schwester Ludwiga wurde noch aufgebahrt, aber schon beim nächsten Todesfall befahl die Mutter Oberin, dass sogleich der Sargdeckel über den Toten geschlossen werden sollte. »Denn es ist etwas Ansteckendes, daran gibt es keinen Zweifel.«
Es war die Spanische Grippe. Woher kam sie? Aus Spanien, wie es der Name vermuten ließ? Oder hatten die Amerikaner sie mitgebracht, als sie in den Krieg eingetreten waren? Keinerwusste es. Die Krankheit war plötzlich da. Zuerst hatte sie sich die Soldaten im Feld vorgenommen, ganz leise und sanft hatte sie sich an die Front geschlichen, sie war in die Männer hineingekrochen und hatte ihre Wehrkraft zersetzt, hüben wie drüben. Denn das Fieber machte keinen Unterschied zwischen Freund und Feind, es tötete die Franzosen und Belgier, die Engländer und Amerikaner genauso wie die Deutschen.
Bald jedoch hatte die Grippe genug von den ausgemergelten, abgekämpften Soldatenleibern und suchte neue Herausforderungen. Sie kroch aus den Schützengräben ins Land und schlüpfte durch Türen und Fenster in Fabriken, Schulen und Wohnungen. Sie ergriff erst einen und dann zwei und dann vier und sechzehn und immer so weiter, bis sie alle am Boden hatte. Manche kamen mit dem Leben davon. Viele tötete sie.
Vielleicht hatte sich die Grippe im Körper eines Soldaten ins Kloster geschlichen. Vielleicht war sie über die Luft hierher geflogen. In jedem Fall hatte es Heiligenbronn erwischt. Da lagen sie nun nebeneinander, Schwestern, Kandidatinnen, Zöglinge, im Angesicht des Todes waren sie alle gleich, röchelnd, elend, erbärmlich.
Armselige Kreaturen, dachte Mirabella, wenn sie den Gang im Hauptgebäude hinunterlief und das Keuchen und Stöhnen hinter den halbgeöffneten Türen hörte und die blutigen Leintücher sah, die sich in den Ecken sammelten, weil niemand mehr da war, der sie wusch.
Sie selbst wurde verschont. Sie bekam die Krankheit nicht, obwohl sie es geradezu herausforderte und die blutigen Lumpen berührte, wenn keiner hinsah. Gott verschonte sie, und Schwester Innozenz verschonte er ebenfalls, obwohl auch sie Tag und Nacht mit den Kranken zusammen war. Sie brachte ihnen zu Essen, wischte ihnen den blutigen Schleim von den Lippen und wechselte ihre Laken und machte die Sargdeckel über ihnen zu. Sie war sehr konzentriert und tüchtig in diesen Wochen, sie vergaß keine der Kranken, und alles, was sie anpackte, führte sie schnell und zielsicher zu Ende. Sie ist so glücklich wie nie, dachte Mirabella, wenn sie
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