Zitronen im Mondschein
selben Moment sah er seine Tochter.
Er wusste sofort Bescheid. Er hätte auch dann Bescheid gewusst, wenn ihm der Zwerg nichts von ihr erzählt hätte, wenn er ihr einfach so auf der Straße begegnet wäre. Sie sah aus wie Maria – Maria mit kürzerem Haar.
Ludwig musste sich an der Kante des Tisches festhalten, so schwindlig war ihm mit einem Mal, schwindlig vor Erinnerung.
Er saß plötzlich wieder vor einem der Zirkuszelte und sah sie vorbeigehen. Sie trug einen roten Rock, der unten mit gelben und blauen Zickzacklinien bestickt war. Eine weiße Bluse. Einen bunten Schal. Maria, die Wahrsagerin, hörte er jemanden sagen. Er verliebte sich auf der Stelle in sie. Weil sie so schön war. Weil sie so abweisend war. Weil sie all das verkörperte, was sein Vater verurteilte. Aberglauben und Hokuspokus. Lebensfreude. Sinnlichkeit, vor allem Sinnlichkeit. Wie er sie begehrte, gleich vom ersten Moment an. Und wie unendlich lange es dauerte, bis sie ihn mit in ihr Zelt nahm, um ihm die Zukunft zu prophezeien. Bis sie ihn liebte
Wie schön sie war, dachte Ludwig. Wie schön sie ist. Seine Augen folgten seiner Tochter durch den Raum. Sie trug ein Tablett mit Tassen, einem Teller mit Kuchen, Zucker und Sahne. So stark, dachte Ludwig. Er sah ihr dabei zu, wie sie die Tassen auf einem der Nachbartische abstellte, dann richtete sie sich wiederauf. Ihre Blicke begegneten sich. Hastig senkte Ludwig die Augen, aber es war schon zu spät. Sie kam direkt auf ihn zu.
Sie hat mich auch erkannt, dachte er erschrocken. Was soll ich nur sagen, wie soll ich mich erklären? Aber das war natürlich blanker Unfug. »Was darf ich Ihnen bringen?«
Sie wollte nur seine Bestellung aufnehmen.
»Bitteschön?«, fragte sie noch einmal, nachdem er nur den Mund geöffnet hatte, aber kein Ton herausgekommen war.
»Kaffee«, stammelte er schließlich.
Er bekam seinen Kaffee, trank und bezahlte ihn, ohne dass sie ihn zur Kenntnis nahm. Sie war seine Tochter, er war nichts für sie. Das geschieht mir recht, dachte er schuldbewusst. Ich habe mich all die Jahre nicht um sie gekümmert.
Dabei hatte er doch nicht einmal gewusst, dass es sie gab.
Am nächsten Tag war er wieder da, diesmal hatte er sein Skizzenbuch dabei. Das machte alles viel einfacher, denn wenn er zeichnete, zitterten seine Hände nicht. Auch am dritten Tag kam er, kritzelte und malte und schrieb, und nun bemerkte sie es auch. »Was zeichnen Sie denn da?«, fragte sie ihn, nachdem sie ihm den Kaffee gebracht hatte.
»Man nehme«, begann Ludwig, ohne sie dabei anzuschauen, denn wenn er sie angeschaut hätte, hätte es ihm die Sprache verschlagen, »eine gut ausgereifte Zitrone und koche sie nicht zu lang in sprudelndem Weißwein. Danach bedecke man sie mit etwas Salz und den weißen Flocken einer frisch geraspelten Kokosnuss und serviere sie im Mondschein.«
Er wartete darauf, dass sie irgendetwas entgegnete und dann wegging, aber sie schwieg so lange, bis er doch aufblickte. »Verstehen Sie?«, fragte er.
»Nein«, sagte sie …
»Das ist Futurismus«, stammelte er. Sie war Maria so ähnlich, so unglaublich ähnlich.
»Ich verstehe nichts von Kunst.«
»Ich bin im Grunde kein Futurist«, begann er zu faseln. »Die Herrschaften sind mir zu verbissen und zu militant. Aber einigeihrer Ideen sind durchaus faszinierend. Sie huldigen dem Krieg. Aber der Krieg ist nichts Bewundernswertes.«
Sie starrte ihn an und schien darüber nachzudenken, ob er den Verstand verloren hatte.
»Kann ich Ihnen noch etwas bringen?«, fragte sie dann.
Er lächelte, obwohl ihm zum Weinen zu Mute war. »So vieles«, sagte er.
Da sagte sie nichts mehr und nahm ihr Tablett und ging.
Von da an ging er jeden Tag in die Rheinterrasse. Er setzte sich immer an denselben Tisch am Fenster, trank seinen Kaffee und ging, bevor das Mittagsgeschäft anfing. Einmal war sein Tisch besetzt, als er kam, das brachte ihn so aus dem Konzept, dass er fast wieder umgekehrt wäre.
Er lernte Mira immer besser kennen. Mira, nicht Mirabella, denn diesen Namen hatte sie abgelegt, das begriff er schnell. Wann immer sie ein bisschen Zeit hatte, stellte sie sich neben ihn und ließ sich seine Zeichnungen zeigen.
»Ich darf das eigentlich nicht«, erklärte sie ihm. »Wenn Herr Kiesemann, mein Chef, sieht, dass ich hier herumsitze, gibt es Ärger.«
Ludwig spürte eine große Wut auf Herrn Kiesemann in sich aufsteigen. Wie konnte er es wagen, einem Vater die spärliche gemeinsame Zeit mit seiner Tochter zu
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