Zitronen im Mondschein
hatte. Hin und wieder setzte sie sich neben ihn und sah ihm zu, wie er zeichnete oder Collagen klebte, aus Bildern und Worten, die er von überall her nahm, aus der Zeitung, von Verpackungen, aus dem Müll. Manchmal entstanden aus dem Nichts Bilder aus dem Krieg. »Hu, was du manchmal für Ideenhast, da kann einem ja angst und bange werden«, meinte Greta dann.
Einmal fragte er sie, ob sie es nicht selbst einmal versuchen wollte. Sie schüttelte aber gleich den Kopf. »Ich habe zwei linke Hände, sagt Ottmar immer. Nein, ich schau dir lieber zu.«
Während er zeichnete, redete sie. Sie erzählte ihm von Helma und Walter, die nach der Geburt des Kindes endlich heiraten wollten, von ihren Eltern, die Greta aus dem Haus geworfen hatten, nachdem sie sich mit einem Anarchosyndikalisten eingelassen hatte. Von einem jungen Mann, den sie auf dem Markt kennengelernt hatte, wo sie einmal in der Woche kleine Blumensträuße verkaufte. »Er schaut mich immer so an«, sagte sie.
»Aber du bist doch verheiratet«, sagte Ludwig, ohne den Blick von seinem Zeichenblock zu heben.
»Natürlich«, sagte Greta. »Wir wollen auch ein Kind – habe ich dir das schon erzählt?«
Am 18. September kam Helma nieder. Selbstverständlich ging sie für die Geburt nicht in ein Krankenhaus, das passte nicht zur anarchistischen Gesinnung. Stattdessen schickte sie abends nach einer Hebamme, als sich Ludwig gerade auf den Weg zur Arbeit machte. Als er um sieben Uhr morgens wieder nach Hause kam, traf auch die Hebamme gerade ein. Sie hatte den Weg in die Freie Erde nicht gefunden oder war mit einer anderen Entbindung beschäftigt gewesen, so genau verstand Ludwig sie nicht, denn sie verschwand gleich im Schlafzimmer, in dem Helma kreischte, als wäre sie vom Teufel besessen. Das Kreischen hielt an bis um neun, danach wimmerte sie nur noch, weil sie keine Kraft mehr hatte. Um elf ging Walter los, um den Doktor zu holen, aber als die beiden eineinhalb Stunden später eintrafen, war Helma schon tot und das Kind auch.
Ludwig saß in seiner Dachkammer und hielt sich die Ohren zu, aber es nützte nichts. Die Wände waren so dünn, er konnte Helma schreien hören, auch dann noch, als sie nur noch röchelte. Selbst als sie schon tot war, hörte er sie noch heulen. Wie Severin. Wie Kanzig. Wie Sommer. Obwohl der gar nicht geschrien hatte.
Ludwig war wieder im Schützengraben, und neben ihm waren die Toten und entsicherten Handgranaten mit lippenlosen Mündern und schleuderten sie mit Knochenhänden in die gegnerischen Reihen. Er sah Sommer, der lebte, bis jemand einen Spaten in seinen Kopf trieb. Sommers Gesicht platzte auseinander, sein Gehirn trat hervor, eine Masse weißlich wie Stachelbeermus, und dann merkte Ludwig, dass er es gewesen war, der ihn erschlagen hatte – er hielt den Spaten ja noch in der Hand.
Seine Beine schmerzten so, dass er nicht aufstehen konnte, der linke Oberschenkel und das rechte Knie. »Wir müssen den Doktor holen«, sagte Greta, die als Einzige hin und wieder nach ihm sah, die anderen waren viel zu sehr mit der Trauer um Helma beschäftigt.
»Es nützt nichts«, stöhnte Ludwig. »Ich bilde es mir ja nur ein.«
Sie ging für ihn in die Rethelstraße in sein Hotel und meldete ihn krank. Eine Woche lang konnte er nicht arbeiten, obwohl er sich selbst für seine eingebildeten Schmerzen hasste. Er lag die ganze Zeit im Bett und starrte an die Wand, nur einmal stand er auf, als sie Helma begruben. Die Männer hatten ihr einen Holzsarg gezimmert und am Waldrand ein tiefes Loch ausgehoben, darin versenkten sie Greta und ihr Kind nun. Das widersprach der Begräbnisordnung, aber wen kümmerte das? Sie waren schließlich Anarchosyndikalisten.
Ottmar hielt eine kurze Ansprache, er sprach von »unserer starken Freundin, die alles gab im Kampf für ihre Überzeugungen«. So, als wäre Helma im Krieg gefallen, dabei hätte sie vermutlich überlebt, wenn nur die Hebamme ein wenig früher erschienen wäre. Ottmar war ein schlechter Redner, und als er fertig war, schwiegen alle betreten. Greta legte einen Strauß Margeriten und Ringelblumen auf das Grab.
Mit Fried und Freud ich fahr dahin in Gottes Wille, getrost ist mir mein Herz und Sinn, sanft und stille
, dachte Ludwig plötzlich. Die Worte und die dazugehörige Melodie drängten sich mit aller Macht in sein Bewusstsein, sie kamen aus seiner Kindheit, auch wenn er nicht mehr wusste, wann und von wem er sie gehört hatte.
Sanft
und stille.
Es gab nichts, was Helmas Sterben
Weitere Kostenlose Bücher