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Zitronen im Mondschein

Zitronen im Mondschein

Titel: Zitronen im Mondschein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mayer Gina
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Hinterhaus. Wenn man durch den Hausflur ging und dann den kleinen Garten durchquerte, kam man hinter dem Direktionsgebäude der Provinzial Feuer-Societät wieder heraus, von da aus führte eine Seitengasse auf den Fürstenwall. Gudrun nannte den Weg immer
die Abkürzung
, obwohl er gar nicht kürzer war, nur verwinkelter.
    Im Garten hinter dem Haus fand sie Gudrun. Neben ihr stand Annemie aus der sechsten Klasse, die schöne Annemie mit ihren rehbraunen Locken und den dunkelroten Lackschuhen, die bestimmt viel mehr als nur ein paar Milliarden gekostet hatten.
    Annemie bemerkte Mira nicht, sie erzählte irgendetwas und gestikulierte dabei mit ihren zarten, schmalen Porzellanhänden hin und her, aber Gudrun sah Mira sehr wohl. Ihr Blick war abweisend und kühl. Geh weiter, sagten ihre Augen, und genau das hatte Mira getan, sie war weitergegangen, an den gelbgrünen Salatköpfen und glänzend roten Erdbeeren vorbei, als ob nichts gewesen wäre, und danach hatte sie Gudrun nie auf die Sache angesprochen, sie hatte sie nach und nach ganz vergessen. Bis jetzt, wo sie sich plötzlich wieder an alles erinnerte, weil Gudrun sie mit genau demselben abweisenden Blick ansah.
    »Was für eine Überraschung!«, rief Gudrun laut. Ihre Augen glitten nervös an Mira vorbei, durch das Fenster, auf die Straße. Mit wem willst du dich heute treffen, fragte sich Mira. Pressmann?
    »Bist du denn nicht arbeiten?«, fragte Gudrun.
    »Störe ich?«, fragte Mira zurück.
    »Ich erwarte eine Kundin zur Anprobe«, sagte Gudrun. »Die Arbeit wächst einem ja regelrecht über den Kopf.«
    Sie gingen ins Nebenzimmer. Mira, die den Raum zuletzt bei der Eröffnungsfeier betreten hatte, schnappte nach Luft. Damals war alles so ordentlich und vornehm gewesen, jetztwar es ein Schlachtfeld. Mehrere Stoffbahnen lagen halb aufgerollt auf dem Boden, blutroter Samt, auf dem mit Stecknadeln bereits Papiermuster aufgeheftet waren, glänzend-rosa Atlas, dazwischen kroch gelbe Litze. Zwei offene Scheren lagen auf dem rosafarbenen Stoff, ein Maßband, Schneiderkreide, ein Kopierrad. Auf dem Tisch zerknülltes Seidenpapier, Stecknadeln, ein Teegeschirr.
    »Willst du Tee?«, fragte Gudrun. »Er müsste noch warm sein. Bedien dich!«
    »Stört es dich, wenn ich weiterarbeite?«, fragte sie dann, während sie sich bereits neben Mira auf die Knie warf und nach der Schere griff.
    »Ich gehe gleich wieder«, sagte Mira und erwartete Gudruns Widerspruch, aber die Freundin hatte sie entweder nicht gehört, oder sie nahm die Bemerkung einfach so hin.
    »Was machst du denn?«, erkundigte sich Mira, nachdem sie eine Weile dabei zugesehen hatte, wie Gudruns Schere sich einen Weg durch den Stoff bahnte, immer am Rand des aufgesteckten Musters entlang. Trotz des Chaos im Raum arbeitete Gudrun präzise und ruhig. Schnapp, schnapp machte die Schere. Zwischen dem zugeschnittenen Stoff und der restlichen Bahn trat dunkelgrünes Linoleum zu Tage.
    »Eine Abendrobe«, meinte Gudrun, ohne dabei aufzublicken. »Der Stoff dafür ist so teuer wie vier Monatsmieten.« Schnapp, schnapp, ein letzter Schnitt. Gudrun hob das fertig zugeschnittene Stoffteil auf und hängte es über eine Stuhllehne, auf der auch schon andere Teile hingen.
    »Warum arbeitest du nicht auf dem Tisch?«, fragte Mira entsetzt.
    »Ordnung ist etwas für Kleingeister.« Gudrun begann ein weiteres Muster aus Seidenpapier auf dem Samt festzustecken, dabei ordnete sie die neue Form so geschickt an, dass so gut wie kein Verschnitt entstand. Mira hatte Gudrun schon öfter bei der Arbeit zugesehen, sie war jedes Mal aufs Neue überrascht, wie zielsicher und konzentriert sie sich im Chaos bewegte. Früher, als Lehrling in der Damenschneiderei und später im Salonauf der Königsallee, waren ihrer Unordnung jedoch Grenzen gesetzt, jetzt aber, in ihrem eigenen Geschäft, gab es niemanden mehr, der sie zum Aufräumen zwang.
    »Du kannst doch in diesem Raum keine Kundschaft empfangen«, meinte sie kopfschüttelnd, während Gudrun ein Stoffteil nach dem anderen ausschnitt.
    Gudrun summte leise, eine Melodie, die Mira nicht kannte. »Wenn Kundschaft kommt, schaffe ich natürlich vorher Ordnung«, gab sie dann zurück, obwohl sie vorhin noch gesagt hatte, dass sie eine Kundin zur Anprobe erwartete.
    Sie schnitt noch drei Teile aus, dann strich sie nachdenklich über den übrig gebliebenen Atlas. »Ich denke, der Rest reicht aus, dass ich mir daraus selbst noch einen Bolero schneidern kann«, sagte Gudrun, während sie den Stoff

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