Zitronen im Mondschein
steckte gerade ihr Portemonnaie zurück in die Schürze und warf Mira noch einen vorwurfsvollen Blick zu, bevor sie sich wieder hinter die Theke begab.
»Sehen Sie?«, sagte Otto, während er sich erhob. »Was heraus muss, muss heraus.«
Er brachte sie zu Fuß nach Hause, und sie redeten über dies und das, seine Arbeit als Ingenieur und die Gesolei und ihre Kellnerei in den Rheinterrassen. Sie überlegte die ganze Zeit, ob sie ihm nicht doch von dem gelben Mann im Wellenbad erzählen sollte, aber dann waren sie schon in der Sedanstraße.
»Also dann«, sagte sie und gab ihm die Hand. »Vielen Dank für das Essen. Trotzdem.«
»Wissen Sie«, meinte er unvermittelt. »Ich will nicht in Sie dringen, ganz gewiss nicht. Es interessiert mich nur.«
Sie nickte überrascht. Er wirkte mit einem Mal so unsicher – wie damals, als er vor der Rheinterrasse auf sie gewartet hatte, um Gudruns Adresse zu erfahren.
»Es ist …« … schon recht, wollte sie sagen, aber er unterbrach sie.
»Ich glaube nämlich nicht, dass wir unsere Vergangenheit einfach so hinnehmen sollten«, meinte er hastig. »Wir müssen sie überdenken und uns von vielen Dingen befreien, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Das verstand sie gut, denn genau das hatte sie getan. Sie hatte sich befreit. Von der Vergangenheit, von allem, was hinter ihr lag, nur die Erinnerung an den gelben Mann war sie noch nicht losgeworden, aber das würde ihr auch noch gelingen.
»Ich habe jetzt übrigens Telefon«, sagte Otto, als Mira nichts entgegnete. Er kritzelte seine Nummer auf einen Zettel und gab ihn ihr. »Wenn Sie wieder einmal Hunger haben.«
Sie lachte, aber er blieb ganz ernst. Als sie die Stufen zu ihrem Zimmer hochging, fragte sie sich, wie die Vergangenheit wohl ausgesehen hatte, von der er sich befreit hatte.
Danach ging es ihr besser. Was heraus muss, muss heraus, hatte Otto gesagt, und es war wirklich so, als habe sie mit dem Fisch auch die Erinnerung an den Mann im Wellenbad ausgespuckt.
Sie befreite sich von ihm. Sie vergaß ihn. Wann immer sie an ihn dachte, an seine widerlichen gelben Hände, seinen Pfefferminzatem, drängte sie die Erinnerung mit aller Kraft in eine dunkle Ecke, in ein Hinterzimmer ihres Bewusstseins. Irgendwann machte sie die Tür zu und schloss ab.
Der gelbe Mann war weg. Stattdessen tauchte Anselm wieder auf. Es war erstaunlich, wie schnell er aufs Neue Besitz von ihr ergriff, wie sehr er ihre Gedanken beherrschte.
Am Samstag ging sie ins Kino. Sie war viel zu früh am Odeon. Fast eine Viertelstunde lang drückte sie sich vor den Auslagen des Gemischtwarenladens auf der anderen Straßenseite herumund betrachtete das Sammelsurium aus Haushaltswaren, Werkzeugen, Gerätschaften, deren Nutzen sie nicht kannte. Ob Anselm es überhaupt bemerkt hatte, dass sie so lange nicht mehr ins Kino gekommen war? Und falls ja, was er sich wohl dabei gedacht hatte? Es war vielleicht ganz gut so, dass sie so lange weggeblieben war, dachte Mira, die Männer interessierten sich ja umso mehr für einen, je weniger Interesse man selber an den Tag legte. Das hatte ihr zumindest Gudrun einmal erklärt.
Dann kaufte sie sich ihre Karte und zwang sich, mit langsamen, ruhigen Schritten in den Kinosaal zu gehen. Noch brannten der Kronleuchter an der Decke und die Wandlampen. Er war nicht da.
Am Klavier saß wieder der alte Pianist – oder vielmehr der neue, der den verstorbenen Alten ersetzt hatte – und blätterte in seinen Noten. Miras Herz, das gerade eben noch so heftig geschlagen hatte, war jetzt kaum noch zu spüren. Die Wochenschau begann und glitt an ihr vorüber, ohne dass sie sie wahrnahm. Der Vorfilm zeigte Indianer am Orinoko, dann begann der Hauptfilm. Es war eine Kriminalgeschichte, so viel bekam sie immerhin mit, aber die holprige Walzermusik des Pianisten riss die Bilder auseinander, so dass sie keinen rechten Sinn mehr ergaben. Mira war aber auch so nicht bei der Sache.
Nun bin ich endlich gekommen, und du bist nicht da, dachte sie. Dabei siezte sie ihn doch. Vielleicht war es ja ihretwegen, überlegte sie, während sich der alte neue Pianist dreimal hintereinander bei der gleichen Tonfolge verspielte. Anselm Guben hatte sich an jenem Abend in sie verliebt, genau wie sie sich in ihn verliebt hatte, aber dann war sie nicht mehr ins Kino gekommen, und er hatte aus lauter Kummer und Verzweiflung die Stelle wieder aufgegeben. Ach Unsinn! Vielleicht war er ja krank. Hoffentlich war es nichts Schlimmes.
»Kommt der neue Pianist
Weitere Kostenlose Bücher