Zitronen im Mondschein
Kino.«
»Welcher Film?«
Welcher Film?
Was war das für ein Film gewesen, den sie am vergangenen Abend gesehen hatte? Sie erinnerte sich nicht mehr. Sie erinnerte sich nur noch an eine wilde Verfolgungsjagd und an das fürchterliche Geklimper des Klavierspielers.
»Ich weiß nicht«, meinte sie. »Irgendetwas Lustiges. Mir war eben so nach Kino an diesem Abend.«
»Ich komme mit«, sagte Gudrun.
Die Kassiererin musterte sie durch ein Lorgnon, das Mira bisher noch nie an ihr gesehen hatte. »Heute in Begleitung«, stelltesie fest, nachdem sie zuerst Gudrun und dann Mira angesehen hatte.
Mira nickte, während sie das Geld über die Theke schob. »Da muss Ihnen der Film aber gefallen haben, wenn Sie ihn sich gleich am nächsten Tag noch einmal ansehen«, meinte die Kassiererin, als sie ihr die beiden Billets gab.
»Was meint sie damit? Warst du gestern schon hier?«, flüsterte Gudrun, während sie in den Saal gingen.
»Ich habe keine Ahnung, wovon die spricht.« Mira blickte nach unten zum Klavier und sah Anselm direkt in die Augen, sie wandte den Blick hastig wieder ab und stolperte über eine Stufe. Gudrun packte sie im letzten Moment am Arm und hielt sie fest. Ob Anselm das beobachtet hatte? Sie wagte nicht hinzusehen.
»Was ist eigentlich los, Mira?«, fragte Gudrun. Auch ihre Augen wanderten jetzt suchend durch den Kinosaal. »Bist du mit jemandem verabredet? Hättest du mir ruhig sagen können.«
»Nein«, sagte Mira schnell. »Ich gehe immer allein ins Kino.«
Als sie auf ihren Plätzen in der zweiten Reihe saßen, holte Mira tief Luft, dann schaute sie noch einmal in Anselms Richtung. Wieder begegnete er sofort ihrem Blick, er lächelte ein winziges Lächeln und nickte, worauf auch sie ihm zunickte und rot wurde.
»Der Klavierspieler«, wisperte Gudrun. »Hat er es dir angetan?«
»Quatsch«, sagte Mira. »Ich kenne ihn nur.«
Erst die Wochenschau, danach die Indianer am Orinoko, dann begann der Film. Auch diesmal hatte Mira Schwierigkeiten, der Handlung zu folgen, weil Gudrun neben ihr saß und weil Anselm spielte, nur ein paar Schritte von ihnen entfernt.
Es ging um einen Straßenjungen, der sich in ein kleines feines Mädchen verliebt hatte. Um sie zu beeindrucken, stahl er einer feinen Dame eine goldene Uhr, damit begann eine hektische Jagd: Der zerlumpte Junge floh durch Gassen und Gärten, über Zäune und Hausdächer. Ihm hinterher jagten die Dame und ein schnurrbärtiger Polizist, ein Dackel, ein großergrauer Hund, zwei weitere Straßenjungen und das feine kleine Mädchen. Der Junge rannte und rannte, und mit ihm rannte die Musik, sie hastete und trippelte und hetzte in weiten Sprüngen, und wenn er stolperte, stolperten auch die Töne.
Warum ist Gudrun mit ins Odeon gekommen? fragte sich Mira. Will sie sich für ihr Benehmen heute Nachmittag entschuldigen? Der Straßenjunge fiel über den Dackel, die Uhr flog aus seinen Händen und in einem hohen Bogen in den Korb der Dame. Der Polizist packte den Jungen und durchsuchte seine Taschen. Wenn Gudrun nur nicht dabei wäre, dachte Mira. Dann könnte ich hinterher vielleicht mit Anselm weggehen. Aber so. Das kleine Mädchen entdeckte die Uhr im Korb. Die Dame rauschte hoch erhobenen Hauptes ab. Das kleine Mädchen lächelte und ging auf den Straßenjungen zu. Die atemlose Musik verwandelte sich in ein kleines, zartes Liebeslied. Dann riss der Film. Anselm hörte auf zu spielen, stattdessen hörte man das Ende des Filmstreifens in der Rolle flattern, es klang wie der Flügelschlag eines gefangenen, verängstigten Vogels.
»Es wäre nun ohnehin zu Ende gewesen«, rief der Vorführer aus seiner Kabine zu den Zuschauern hinunter.
Das Licht ging an, einige Besucher begannen zu murren. »Kriegen sie sich, oder kriegen sie sich nicht?«, fragte Gudrun, dabei sah sie nicht Mira an, sondern Anselm, der seine Brille abgenommen hatte und putzte.
»Natürlich kriegen sie sich«, sagte Mira. »Wenn der Film nicht gerissen wäre, hätte sie ihn geküsst.«
»Woher weißt du das? Ich dachte, du hast den Film noch nicht gesehen«, sagte Gudrun.
»So etwas weiß man eben«, sagte Mira ausweichend und erhob sich gleichzeitig. Sie wollte nicht, dass Gudrun und Anselm sich kennenlernten, deshalb steuerte sie die Freundin in Richtung Ausgang, aber kurz vor der Tür holte er sie ein.
»Guten Abend«, sagte er. »Wie geht es Ihnen?«
»Danke der Nachfrage«, sagte Gudrun, bevor Mira etwas sagen konnte. »Gut. Und selbst?«
»Danke«, meinte er
Weitere Kostenlose Bücher