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Zitronen im Mondschein

Zitronen im Mondschein

Titel: Zitronen im Mondschein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mayer Gina
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großen Zügen und merkte, wie sich die Schwerelosigkeit in ihrem Kopf langsam in Betrunkenheit wandelte. Ich muss aufhören, dachte sie, aber sie hörte nicht auf.
    Gudrun drückte ihre Zigarette aus. Langsam verzog sich der Rauch. »Ich muss dir etwas erzählen«, meinte sie dann.

Viertes Kapitel
    I.
    Madame Argent starb im Februar 1905 an dem großen Krebsgeschwür, das sich in ihrer Brust gebildet hatte. Sie hatte sich bis zum Schluss geweigert, einen Arzt aufzusuchen. Nur ein einziges Mal, kurz nach Weihnachten, war sie zu einem Doktor gegangen. »Was sagt er?«, hatte Maria gefragt, als Madame Argent am späten Nachmittag aus Würzburg zurückgekommen war, ihr Gesicht grau vor Erschöpfung. Aber sie wusste die Antwort natürlich, genau wie Madame Argent sie schon gekannt hatte, lange bevor sie losgegangen war.
    »Er rät zur Operation«, erwiderte die Wahrsagerin, während sie ihren Mantel auszog und achtlos über einen Schemel warf. Sie ließ sich auf die Bettkante sinken und beugte sich nach vorn, um die Schuhe auszuziehen. Maria kniete sich neben sie, um ihr zu helfen. Sie erwartete, dass Madame Argent ihre Hilfe zurückweisen würde, aber die Wahrsagerin ließ sich die Schuhe ausziehen, willenlos und schwach, als wäre es die normalste Sache der Welt.
    »Und?«, fragte Maria, während sie die schweren Schnürstiefel an die Zeltwand stellte – zu den roten Lackschuhen und den weißen Sommersandalen, die Madame Argent niemals mehr tragen würde.
    »Was und?« Madame Argent schwang die Beine mühsam hoch aufs Bett und ließ sich aufs Kissen fallen. Als sie die Augen schloss, wirkte ihr Gesicht wie das einer Toten. »Ich werde diesen Kurpfuscher ganz gewiss nicht an mir herumschneiden lassen.«
    »Dann müssen wir eben einen anderen Arzt finden.«
    »Ach was! Es ist zu spät. Das Geschwür ist fast so groß wie eine dritte Brust.«
    Woher das Morphium kam, wusste Maria nicht. Die gläsernen Ampullen mit der Droge lagen eines Morgens in einem Holzkästchen neben Madame Argents Bett, und wenn sich der Vorrat dem Ende neigte, war der Kasten kurze Zeit später wieder voll. Vermutlich organisierte Meister Nicolas den Nachschub; außer dem Zirkusdirektor, Mirko, dem Zwerg und Maria war er der Einzige, den Madame Argent noch zu sich ließ. Am Anfang spritzte sich Madame Argent selbst das Morphium, später, als sie immer schwächer wurde, übernahm es Maria.
    Die Wochen vor ihrem Tod verbrachte Madame Argent in ständigem Dämmerschlaf. Maria spritzte morgens, mittags, abends, aber an einem Abend schob Madame Argent Marias Hand zur Seite. »Warte.«
    »Aber es ist doch ansonsten nicht auszuhalten.«
    »Setz dich«, sagte Madame Argent, und Maria ließ sich auf der Bettkante nieder, neben dem schwarzen Kater, der immer auf Madame Argents Bett lag, wenn er nicht draußen Mäuse jagte. »Du wirst alles erben, was ich besitze«, begann Madame Argent. »Es ist nicht viel, aber es wird dir helfen.«
    »Du wirst auch das andere Zelt übernehmen und die Wahrsagerei. Das Herumgehopse auf der Bühne mit Meister Nicolas bringt zu wenig, du brauchst eigene Einkünfte, damit du etwas zur Seite legen kannst.«
    »Ich soll als Wahrsagerin arbeiten? Wie sollte das denn gehen?«
    »Ganz einfach. Du prophezeist den Leuten ihre Zukunft.«
    Maria lachte ungläubig. »Aber das kann ich doch nicht.«
    »Du kannst es genauso gut wie ich«, sagte Madame Argent. »Oder glaubst du etwa, dass ich übersinnliche Fähigkeiten habe?«
    Maria lachte noch einmal, aber dann wurde sie ernst. Ja, erkannte sie plötzlich, genau das hatte sie geglaubt, dass Madame Argent wirklich in die Zukunft schauen konnte. Vielleicht nicht immer und in jedem Fall. Aber grundsätzlich … Nun, da sie darüber nachdachte, erschien es ihr dumm und kindisch.
    »Ich werde es dir erklären«, fuhr Madame Argent in milderem Ton fort, aber dann unterbrach sie sich und starrte lange und angestrengt gegen die Zeltwand, als versuchte sie sich an etwas zu erinnern. Maria wusste, dass die Wirkung des Morphiums endgültig nachgelassen hatte und die Schmerzen sich zusammenballten und dass Madame Argent sich darauf konzentrierte, nicht laut zu schreien. Ihre Finger zuckten in Richtung der aufgezogenen Spritze, doch Madame Argent schüttelte den Kopf. »Noch nicht.«
    »Ich denke mir alles aus«, begann sie danach wieder, nachdem sie die Augen einige Sekunden lang geschlossen und dann wieder geöffnet hatte. »Und Mirko hilft mir dabei. Er wird auch dir helfen.«
    Mirko, der Zwerg,

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