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Zitronen im Mondschein

Zitronen im Mondschein

Titel: Zitronen im Mondschein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mayer Gina
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der vor Madame Argents Zelt die Eintrittskarten verkaufte? Wie sollte er ihr helfen? Er war so einfältig, dass er kaum mehr als drei zusammenhängende Worte herausbrachte.
    »Du denkst, er ist dumm«, sagte Madame Argent. »Alle denken das. Das stimmt aber nicht. Er ist nur maulfaul, weil ihn die meisten ohnehin nicht für voll nehmen, seiner beschränkten Körpergröße wegen.«
    »Aber was tut er? Wie kann er Ihnen helfen?«
    »Er beobachtet die Leute, horcht, was sie miteinander reden, während sie auf Einlass warten. Er sieht sie sich an, ihre Haltung, ihre Kleidung, ihre Hände, ihr Gesicht. Alles, was er erfährt, gibt er an mich weiter. Daraus bastele ich dann meine Prophezeiung.«
    »Was kann er denn groß sehen? In dieser kurzen Zeit!«
    »Vieles, vieles.« Madame Argent lächelte kurz, dann keuchte sie. Schweißperlen traten auf ihre helle Stirn. Wie durchsichtige Wachstropfen auf einer weißen Kerze. Mit dem Ärmel wischte sie sich den Schweiß ab, aber es traten sofort wieder neue kleine, glasklare Tropfen auf ihre Haut, obwohl es ganz kalt im Zelt war.
    Maria tastete wieder nach der Spritze, und dieses Mal streifte Madame Argent wortlos einen Ärmel hoch und streckte ihrihren Arm hin. Maria schob die weiße Haut am Oberarm mit Zeigefinger und Daumen zusammen. Die Spitze der Spritze tauchte ein. Madame Argent entspannte sich, noch bevor Maria das Morphium unter die Haut gedrückt hatte.
    »Es geht nicht mehr ohne das Gift«, flüsterte Madame Argent. »Es geht bald überhaupt nicht mehr. Ich werde sterben.«
    Maria hatte das Gefühl, dass sie irgendetwas von ihr erwartete, eine Frage, eine Bemerkung, Trost. Aber die einzige Frage, die ihr in den Sinn kam, hatte weniger mit Madame Argent zu tun als mit Maria selbst. Sie wollte, sie musste sie jedoch stellen, bevor es zu spät dazu war.
    »Damals, als ich zu Ihnen gekommen bin. Das war doch wirklich und echt. Da haben Sie doch tatsächlich in mich hineingesehen.«
    »Maria!« Madame Argents Stimme klang mit einem Mal sehr müde, aber in der Müdigkeit schwang auch eine Spur Ungeduld mit. »Wenn ich es dir doch sage – ich habe keine übersinnlichen Fähigkeiten. Du bist es, die Erscheinungen hat, mir dagegen ist noch nie ein echter Geist oder gar die Muttergottes erschienen, um meinem Leben eine neue Richtung zu geben. Ich ziehe meine Schlüsse aus dem, was ich sehe und höre. Das ist alles.«
    »Wie konnten Sie das alles über mich erraten, was Sie mir damals gesagt haben?«
    »Das mit deinem Liebhaber, der dich verlassen hat? Mirko hat euch vorher vor meinem Zelt gesehen, und er hat auch gesehen, wie du weggelaufen bist, weil der Kerl ein anderes Mädchen dabei hatte.«
    »Dann haben Sie sich das ausgedacht, dass Bruno heiraten und seine Frau betrügen wird und all das?«
    »Ausgedacht? Wer eine wie dich gehabt hat und nicht Verstand genug besitzt, dich für immer festzuhalten, der wird auch mit keinem anderen Mädchen auf Dauer zufrieden sein.«
    »Und das … mit meinem Vater?«, fragte Maria. »Wie konnte der Zwerg das in Erfahrung bringen?«
    »Ich habe die Flecken und Male auf deinen Armen gesehen und an deinen Beinen, als du dich hingesetzt hast. Es war offensichtlich,dass dich einer geschlagen hat. Dein Liebhaber hatte dich verlassen, der kam nun nicht mehr in Frage. Und ansonsten? Vater, Bruder, Mutter? Der Vater erschien mir am wahrscheinlichsten, also habe ich mich dafür entschieden.«
    So einfach war das. Madame Argent hatte nicht in sie hineingesehen, sie hatte nur eins und eins zusammengezählt. Geraten. Sie hat mich betrogen, dachte Maria, und das machte sie so wütend, dass sie am liebsten weggerannt wäre, aber dann sah sie Madame Argents Augen. Winzige Pupillen, umgeben von einer Iris, die jeden Glanz verloren hatte. Tote Augen.
    »Maria«, sagte Madame Argent leise. »Hilf mir, Maria.«
    Hilf mir, Maria? Was wollte Madame Argent von ihr? Maria spritzte ihr doch schon das Morphium, wusch sie, bereitete ihr das Essen, ging ihr zu Hand. Was wollte sie denn noch mehr?
    »Bist du mir böse?«, flüsterte Madame Argent.
    »Nein«, sagte Maria, doch es stimmte nicht, sie war böse, sie hasste Madame Argent geradezu dafür, dass sie sie so getäuscht hatte.
    »Ich möchte dir noch so vieles sagen, aber ich kann es nicht mehr«, sagte Madame Argent.
    Vielleicht ist es besser so, dachte Maria.
     
    Das war das letzte Gespräch, das sie mit Madame Argent führte, so lange diese noch am Leben war.
    Ich kann es nicht mehr
, hatte Madame Argent

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