Zitronen im Mondschein
Zirkusleute am offenen Grab vorbei, einer nach dem anderen. Jeder warf eine Schaufel vollErde in das schwarze Viereck, nur die alte Esmeralda warf eine Seidenrose hinunter. Schließlich war Maria an der Reihe, und auch sie wünschte sich, dass sie irgendetwas anderes auf den Sarg werfen könnte als kalte, schwarze Erde. Sie hatte aber nichts dabei, also nahm sie die Schaufel und schloss die Augen, und als die hart gefrorenen Klumpen auf den dünnen Sargdeckel polterten, erinnerte sie sich plötzlich wieder an das Gesicht der Muttergottes – an ihr wirkliches Gesicht, das ihr im Käppele erschienen war.
Sie sah sie vor sich, die dunklen, schmalen Augen, die volle Oberlippe über der schmaleren Unterlippe, sie sah die braunen Haare in der Stirn und einen Leberfleck am linken Nasenflügel, der ihr damals nicht aufgefallen war. Sie erwartete, dass die Jungfrau wieder zu ihr sprechen würde, aber entweder schwieg sie, oder Maria konnte sie nicht hören.
Marias Trauer um Madame Argent war grenzenlos. Sie konnte es selbst nicht fassen, wie sehr sie sie vermisste. Sie hatten so wenig Zeit miteinander verbracht, ein halbes Jahr, von September bis Februar. Zu wenig, dachte Maria, viel zu wenig. All die Fragen, die sie ihr noch hatte stellen wollen, alle Gespräche, die sie noch hatte führen wollen, gingen ihr durch den Kopf und konnten nicht heraus. Sie verfolgten sie am Tag und quälten sie in der Nacht. Ich wusste als Einzige, dass sie sterben würde, dachte Maria, aber ich habe die letzte Zeit dennoch nicht genutzt.
Sie hörte auf zu essen. Allein der Gedanke an Nahrung brachte sie zum Würgen. Madame Argent war alles gewesen, was ihr geblieben war. Mutter, Vater, Schwester, Bruder, Freundin. Jetzt war sie tot. Jetzt war alles zu spät.
Wer war sie? fragte sich Maria. Woher kam sie? Warum habe ich sie nie danach gefragt?
Ende Februar verließ der Zirkus das Winterquartier und zog weiter. Ihren ersten Auftritt hatten sie in Mergentheim. »Der erste Auftritt nach dem Winter ist immer der beste«, erklärtedie alte Marthe Maria. Marias erster Auftritt nach Madame Argents Tod war jedoch glanzlos und spröde. Ein dünner Applaus hüllte sie ein, als sie aus der durchsägten Kiste stieg und die Arme ausbreitete, zum Beweis, dass sie lebte. Was früher echte Begeisterung gewesen war, klang jetzt wie ein schwacher Trost. »Das wird schon wieder«, sagte Meister Nicolas hinterher und klopfte ihr auf die Schulter, aber stattdessen wurde es von Mal zu Mal schlechter.
So schlecht, dass Nicolas im Juni Chiara anzulernen begann, die hübsche sechzehnjährige Tochter von Domenica und Pito. Am Abend vor Chiaras erstem Auftritt als Nicolas’ Assistentin kam Mirko zu Maria ins Zelt.
Maria hockte auf Madame Argents Feldbett, in dem sie nun selbst schlief, und streichelte Wotan, den schwarzen Kater, der jetzt ihr gehörte.
»Was gibt es?«, fragte sie unwirsch, als sie Mirkos kleine bucklige Gestalt im Zelteingang auftauchen sah.
Wie üblich antwortete er nicht, er trat einfach nur ein und ließ sich mit gekreuzten Beinen auf dem Strohsack nieder, auf dem sie früher geschlafen hatte und den sie immer noch mitschleppte und ausbreitete, obwohl sie ihn gar nicht mehr brauchte.
»Was willst du denn?«, fragte Maria so scharf und unfreundlich, dass Wotan aufsprang und sich unbehaglich streckte. Sie spürte seine Krallen durch den dünnen Rock auf ihrer nackten Haut. Ein Moment lang stand er unentschlossen da, dann sprang er in einem eleganten Satz vom Bett und stolzierte würdevoll aus dem Zelt.
»Wollte fragen, wann wir anfangen«, sagte Mirko mit seiner leisen, ein wenig heiseren Stimme.
»Anfangen womit?«, fragte Maria zurück, doch natürlich wusste sie ganz genau, was er meinte.
Sie ließ sich auf einen ersten Versuch ein, weil Mirko nicht aufgab, sondern einfach sitzen blieb, bis sie es nicht mehr ertrug. Es war ein leichtes Spiel, dieser erste Versuch, weil sie Sascha aus der Seiltanztruppe vor sich hatte, von dem jedermann wusste, dass er unsterblich in die Seiltänzerin Eva verliebt war,die wiederum mit Blasius dem Koch verheiratet war, der sie schlug. Maria erzählte Sascha etwas von einer unglücklichen Liebe und blutenden Herzen, von einer Sehnsucht, die sich erfüllen würde, aber in einem anderen Sinne, als er es heute erwartete. Sascha nickte und brach in Tränen aus. Hinterher nahm er ihre Hände in seine und drückte sie voller Dankbarkeit, obwohl er doch ganz genau wusste, dass sie sich das Ganze nur
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