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Zitronen im Mondschein

Zitronen im Mondschein

Titel: Zitronen im Mondschein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mayer Gina
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gesagt, dann war sie eingeschlafen, und Maria hatte das Zelt verlassen. Eine ganze Weile lang war sie ziellos auf dem Zirkusgelände herumgeirrt, ihr Gesicht so abweisend, dass keiner sie ansprach. Was suche ich eigentlich hier? hatte sie sich gefragt. Warum bin ich hier? Was will ich hier? Was sie für Vorsehung gehalten hatte, war nur ein billiger Trick gewesen. Irgendwann, als ihre Schuhe schwer von dem Lehm waren, der an ihren Sohlen klebte, lief sie wieder zurück. Als sie das Segeltuch vor dem Zelteingang beiseite schob, spürte sie es. Madame Argent war tot. Vor Schreck zog sich ihr Brustkorb eng zusammen, noch bevor sie das stille, stumme, in sich gekehrte Gesicht sah.
    Madame Argent lag auf dem Rücken, die Augen geschlossen, die Hände über dem Bauch gefaltet. Sie sah aus wie eine Steinfigur auf einem alten Grabmal in einer Kirchengruft. Sie war sehr krank gewesen, aber dennoch war der Tod zu plötzlich gekommen. Jemand hatte ihr geholfen und ihr hinterher die Augen zugedrückt und die Hände gefaltet.
    Sie wollte, dass ich es tue, dachte Maria. Vielleicht hat sie mich überhaupt nur deshalb ausgewählt, sie zu begleiten, im letzten Sommer. Vielleicht wusste sie damals schon, dass sie krank war. Sie wollte den Zeitpunkt des Todes selbst bestimmen, und ich sollte ihr dabei helfen. Mich hat sie ausgewählt, aber ich habe es nicht getan.
    Maria kniete sich neben die Tote und nahm ihre Hände, die außen kühl waren, aber aus dem Inneren drang noch ein wenig Wärme, als ob das Leben erst allmählich aus ihnen herausströmte. »Vergeben Sie mir, Madame Argent«, murmelte sie.
    Madame Argent antwortete nicht, ihr Gesicht war still und stumm und tot.
    Maria umfasste Madame Argents kühle Hände mit ihren eigenen warmen Händen, sie schloss die Augen und versuchte sich das Gesicht der Muttergottes vorzustellen, wie sie ihr damals im Käppele erschienen war. »Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir«, flüsterte sie. Aber vor ihrem inneren Auge erschien nur eine blasse, fromme Heiligengestalt mit kunstvollen Holzlocken und gemalten Lippen, nicht die Jungfrau mit den schmalen Augen und dem vollen Mund, die sie damals gesehen hatte und die ihr von dem Geschwür in Madame Argents Brust erzählt hatte und dass sie daran sterben würde. Damals hatte sie nicht verstanden, warum die Muttergottes zu ihr gesprochen hatte. Jetzt, da alles zu spät war, verstand sie. Ich hatte eine Aufgabe, aber ich habe sie nicht erfüllt. Ich sollte Madame Argent begleiten bis zum Schluss, doch ich bin weggelaufen.
    »Vergib mir, heilige Maria«, wisperte Maria. Die Holzmadonna verzog keine Miene. Maria machte die Augen wieder auf, und im selben Moment hörte sie ein leises Räuspern.
    Maria stieß einen leisen Schrei aus und fuhr hoch. In dem dunklen Zeltwinkel hinter dem Tisch saß Mirko der Zwerg und sah sie an.
    Mirko also. Er hatte zu Ende gebracht, was sie nicht übernehmen wollte. Er war eingesprungen, als sie versagt hatte.
    »Wie hast du sie getötet?«, fragte sie, und zu ihrer eigenen Überraschung zitterte ihre Stimme plötzlich vor Wut.
    Mirko antwortete nicht, er betrachtete sie nachdenklich aus glänzenden Augen.
    Du denkst, er ist dumm, hatte Madame Argent gesagt. Aber er ist nur maulfaul, weil ihn die meisten ohnehin nicht für voll nehmen.
    »So rede doch!«, herrschte sie den Zwerg an. »Erzähl mir, was geschehen ist!« Es war natürlich ein ganz und gar falscher Ton, sie spürte selber, wie die unsichtbare Mauer zwischen ihr und Mirko mit jedem Wort höher und breiter wurde.
    »Was ist? Hat es dir die Sprache verschlagen?«, fragte Maria und versuchte, ihrer Stimme einen sanfteren, freundlicheren Klang zu geben.
    Der Zwerg schwieg.
    »Was hast du ihr gegeben? Morphium?«
    Kein Nicken. Kein Kopfschütteln. Keine Antwort.
    »Hat sie noch etwas über mich gesagt?«, flüsterte Maria, aber diese letzten Worte sprach sie so leise aus, dass der Zwerg sie gar nicht hören konnte. Vielleicht dachte sie sie auch nur.
     
    Madame Argent bekam ein kleines Grab auf dem Friedhof hinter der Festung. Es lag ganz am Rand des Geländes, zwischen der Mauer und ein paar hohen Haselbüschen, die ihre Ruten nackt und kahl gen Himmel streckten.
    Ein Pfarrer sprach ein paar dürre Worte, die an Maria vorüberrauschten, weil sie nichts mit Madame Argent zu tun hatten.
M . Argent
stand auf dem Holzkreuz, so als wäre
Madame
ihr Vorname gewesen, und das Todesdatum. Mehr wusste man nicht von ihr. Danach zogen die

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