Zitronen im Mondschein
Schlechte Kleidung bedeutete Armut oder Geiz oder Gleichgültigkeit. Wer ihrem Blick auswich, war schüchtern oder verlegen, oder er hatte etwas zu verbergen. Für jedes Anzeichen gab es niemals nur eine Ursache, sondern immer eine Fülle von möglichen Gründen, es kam darauf an, die Gesamtheit der Merkmale zu erkennen und jede Einzelheit richtig einzuordnen.
Sie lernte, ihre Prophezeiungen in vage, blumige Sätze zu verpacken, die manches andeuteten und sich nicht festlegten. Sie lernte, dass ihre Stimme, ihre Haltung, ihr Gesichtsausdruck mindestens so wichtig war wie das, was sie sagte. Sie lernte, dass jede Voraussage ein Versprechen beinhalten musste. Einen Trost.
War das gegeben, ertrugen die Menschen so gut wie alles.
Inzwischen zogen sie wieder von einer Stadt in die nächste. Künzelsau, Heilbronn, Pforzheim und weiter in Richtung Schwarzwald. Die einzelnen Orte und ihre Namen waren für Maria so bedeutungslos wie früher. Auch die Besucher, die Mirko in ihr Zelt schickte und denen sie die Zukunft weissagte, bedeuteten ihr nichts. Dennoch spürte sie eine Veränderung. Sie begann wieder zu essen. Sie setzte sich abends ans Feuer zu den anderen. Sie war wieder ein Teil des Ganzen.
Madame Argent war tot. Maria lebte.
II.
Im August lernte Maria Ludwig Wunder kennen. Es war nicht so, dass sie sich auf den ersten Blick in ihn verliebte. Sie nahm ihn am Anfang überhaupt nicht zur Kenntnis. Er war irgendwo zwischen Pforzheim und Forbach zu der Zirkustruppe gestoßen, aber er war kein Artist und trat auch nicht auf, er half den Männern nur beim Auf- und Abbau der Zelte, reparierte die Zirkuswagen, mistete die Pferdeställe aus, machte sich nützlich. Er fügte sich ein, aber gehörte nicht dazu und wollte auch gar nicht dazugehören.
»Ich ziehe bis Freiburg mit«, erklärte er Maria an jenem ersten Abend, als sie nebeneinander am Feuer saßen und Gulaschsuppe löffelten. »Und danach … man wird sehen.«
»Suchst du dir dort einen anderen Wanderzirkus?«, fragte sie.
»Nein. Ganz egal. Ich mache alles, was mich ernährt.«
Er war ein Künstler und malte in jeder freien Minute. Manchmal sah sie ihn vor seinem Zelt stehen und leuchtende Farben auf eine Leinwand tupfen, manchmal saß er mit seinem Skizzenblock in der Manege und zeichnete die Artisten, wenn sie trainierten.
»Darf ich dich einmal malen?«, fragte er Maria, nachdem sie sich ein paar Tage kannten.
»Nein«, sagte Maria sofort. Sie hatte Madame Argents Warnung noch zu gut in Erinnerung.
Wenn du mit einem von ihnen etwas anfängst, musst du ihn heiraten.
Ludwig Wunder gehörte zwar nicht richtig zur Truppe, aber dennoch. Wenn sie sich von ihm malen ließ, würde er sich vielleicht Hoffnungen machen, auf jeden Fall aber würde es Gerede geben bei den Mädchen und Frauen, denn Wunder war groß und kräftig gebaut und nicht hässlich. Und das konnte sie sich genauso gutersparen, denn sie war sich ganz sicher, dass sie ihn nicht heiraten wollte.
Ludwig Wunder versuchte nicht, sie zu überreden. »Schade«, sagte er einfach nur.
Dann malte er Chiara.
Und das ärgerte Maria.
Auf dem Bild war Chiara nicht zu erkennen. Ihr braunes Gesicht erschien oliv, fast grünlich auf der Leinwand. Rote Flecken saßen unter ihren Augen, zwei schwarze Pinselstriche. Das dunkle Haar war schwarz wie eine Haube und schimmerte oben bläulich. Um den Hals trug die abgebildete Chiara eine lange Kette aus roten Kugeln. »Ich habe aber gar keine solche Kette«, sagte sie empört, als wäre das der entscheidende Punkt.
Ludwig Wunder lachte nur, als sie das sagte. »Bist du dir ganz sicher?«, fragte er.
Am nächsten Tag ging er in die Stadt und brachte Chiara genau so eine Kette mit, wie er sie auf dem Bild gemalt hatte. »Danke«, sagte sie, unsicher und erfreut zugleich. »Das Bild ist mir trotzdem nicht ähnlich.«
»Äußerlich nicht«, sagte Wunder. »Aber das ist auch nicht wichtig.«
»Was ist denn wichtig?«, fragte ihn Maria hinterher, als Chiara weggegangen war.
»Was für eine Frage! Das Innere natürlich. Das Äußere ist doch nur eine Hülle, die zudem jeder sehen kann. Es ist schal und falsch. Das Innere aber stimmt. Das zu erfassen ist die wahre Kunst.«
»Und in deinem Bild von Chiara hast du es erfasst?«, fragte Maria skeptisch.
Er zuckte mit den Schultern. »Das zu beurteilen liegt nicht an mir.«
»An wem dann?«
»An dir beispielsweise. Du kennst Chiara besser als ich. Habe ich sie erfasst?«
Sie betrachtete das Bild lange. Hinter
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