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Zitronen im Mondschein

Zitronen im Mondschein

Titel: Zitronen im Mondschein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mayer Gina
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ausgedacht hatte.
    Sie probierten noch einmal mit Alban, einem der Liliputaner, der furchtbar abergläubisch war. Auch diese Probe verlief so gut, dass sie sich danach an einen Fremden wagten. Es war kurz nach der Nachmittagsaufführung am Sonntag, als Mirko ihn ins Wahrsagerzelt führte und Maria dabei unauffällig einen Zettel zuschob.
Ehering
, las sie.
Frische Narbe am Hals, gebrochene Nase, lautes Gebaren (betrunken?) , Kleidung armselig, schlechtes Schuhwerk, riecht .
    Du liebe Zeit! dachte Maria. Sie stützte die Ellenbogen auf den Tisch und legte die Stirn auf ihre Fingerspitzen, so wie es Madame Argent bei ihren Auftritten immer gemacht hatte. Die Worte, die Mirko in seiner kleinen Zwergenschrift auf den Zettel gekritzelt hatte, rasten durch ihren Kopf und prallten gegeneinander. Was soll ich nur sagen?
    Der Mann räusperte sich. Sie nahm seine Hand, drehte sie nach oben und starrte in die offene Handfläche. Falten, Runzeln, Schwielen. Arbeiterhände. Mit dem Zeigefinger fuhr sie die lange Lebenslinie nach. Das verschaffte ihr noch ein paar Sekunden Bedenkzeit, aber dann musste sie reden.
    »Ich sehe eine Frau, die weint«, sagte sie, wobei sie den Mann nicht ansah, sondern die Augen geschlossen hielt. »Und Kinder – die ebenfalls traurig sind …«
    Er räusperte sich wieder, sie fragte sich, was das bedeutete. Ob sie richtig lag oder vollkommen falsch. »Sie weinen«, sagte sie vorsichtig, »denn sie sind … hungrig.«
    Der Mann schwieg. Sie fühlte ihre Fingerspitzen an ihrer Stirn und atmete tief und schwer, als ob sie von den übersinnlichen Eindrücken, die auf sie einstürmten, überwältigt wurde.
    »Ich sehe ein Wirtshaus, ein Stuhl liegt am Boden. Ein Mensch liegt in seinem Blut. Sind Sie das? Nein, es ist ein anderer … Was ist geschehen? Ich höre Weinen und Wehklagen.«
    »Ja«, unterbrach der Mann sie auf einmal unwirsch. »Aber das ist die Vergangenheit, die Sie da beschreiben. Ich will aber die Zukunft wissen.«
    Wenn ich die Vergangenheit richtig geraten habe, dann soll es mir nicht schwerfallen, eine passende Zukunft dazu zu erfinden, dachte sie. »Das Weinen wird lauter«, erklärte sie. »Aber nun … was ist das? Eine Gestalt tritt zu der weinenden Frau und den Kindern hin, es ist ein Mann, ein großer, kräftiger Mann. Sie sind es, ich erkenne das jetzt ganz deutlich. Sie geben der Frau etwas. Ich kann nicht erkennen, was es ist, aber es macht sie froh. Sie küsst ihre Hand, und jetzt steht sie auf … aber nun ist alles verschwommen und unklar«, fügte sie hastig hinzu, denn der Mann war plötzlich so abrupt aufgesprungen, dass er seinen Stuhl dabei umgerissen hatte.
    »Ein erbärmlicher Unsinn ist das und dummes, verlogenes Zeug!«, rief er. »Meine Frau ist vor zwei Wochen an den Masern gestorben, und ein Kind ist tot, und die anderen beiden sind krank. Und was Sie da gesehen haben, haben Sie sich ausgedacht! Ich will auf der Stelle mein Eintrittsgeld zurück, sonst schlag ich das ganze Zelt zusammen und mach einen Krach, dass Sie ihn nie wieder vergessen. Ich schwöre es bei allem, was mir heilig ist.«
    Mira stammelte etwas von den Bildern aus der Vergangenheit und der Zukunft, die sich gegenseitig überlagert und ihr den Geist vernebelt hatten, aber er hörte gar nicht richtig zu und tobte nur noch lauter. Zu ihrer Erleichterung tauchte plötzlich Mirko der Zwerg auf und drückte ihm wortlos seine zwanzig Pfennige Eintrittsgeld in die Hand. Der Mann wütete aber noch eine ganze Weile weiter, bevor er sich endlich verzog.
    »Siehst du?«, rief Maria, als sie endlich allein waren. »Ich kann es nicht.«
    »Aller Anfang ist schwer«, sagte der Zwerg.
     
    »Zieh niemals zu schnelle Schlüsse«, erklärte er ihr am nächsten Tag, als er wieder in ihrem Zelt auftauchte, um sie zur Arbeit zu holen, als hätten sie es so verabredet. »Bleibe immer im Allgemeinen. Rede nicht zu viel über die Gegenwart, sprich nie über die Vergangenheit, halte dich an die Zukunft.«
    Sie hörte zu und fragte sich, warum sie überhaupt mit ihm ging. Aus ihr würde niemals eine gute Wahrsagerin werden. »Vor allem aber«, fuhr der Zwerg leise und heiser fort, »versuche nicht die Menschen nach deinen Vorstellungen zu verändern. Nimm sie, wie sie sind. Lass sie.«
    Lass sie.
Mit diesen beiden Worten im Hinterkopf ging es besser.
    Sie lernte zu beobachten und zu verstehen. Rissige, aufgesprungene Hände konnten auf harte Arbeit hindeuten, aber auch auf Nachlässigkeit dem eigenen Körper gegenüber.

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