Zitronen im Mondschein
blickte ihn wieder mit ihren Raubkatzenaugen an. Dunkelgrüner Absinth hinter dünnem Glas. Sein Rachen war sehr trocken, und sein Gehirn weitete sich, es war, als ob in seinem Kopf neuer Raum entstünde, und der neue Raum füllte sich mit neuen Gedanken – Gedanken, die er eigentlich gar nicht denken wollte, weil sie mit Lilly zu tun hatten. Er musste zurück an die Arbeit, dennoch stand er nicht auf. Er blickte auf seine Hände, die vor ihm auf dem Tisch lagen, als gehörten sie nicht zu ihm. Der Daumen war blau, der linke Zeigefinger gelb, die beiden Handrücken rot und orange befleckt. Dazwischen lag der kleine Spiegel, der wieder blank und klar war und die dunkelbraune Holzdecke reflektierte.
Sie schob ihren Stuhl zurück. Zeit aufzustehen, dachte er, Zeit wegzugehen. Aber er stand immer noch nicht auf.
»Ihre Fresken warten, Herr Wunder«, sagte Lilly neben ihm mit einer sehr weichen, zärtlichen Stimme. Sie stand vor derdunklen Wandvertäfelung; ihr kurzes Haar hob sich vor dem braunen Hintergrund ab, weiß und klar wie Licht. Auch ihr Gesicht erschien sehr bleich, nur ihre Lippen waren rot und voll. Er sah sie plötzlich als Bacchantin auf seinem Fresco, ihren langen, geschmeidigen, nackten Körper. »Herr Wunder«, sagte Lilly noch einmal, als wäre sie mit dem Klang seines Namens nicht zufrieden gewesen und probiere es jetzt noch einmal.
Sie ist mir so nah, dachte er, sie wird mich gleich berühren, und ich habe nichts, was ich ihr entgegensetzen könnte.
Bevor er den Gedanken richtig zu Ende gedacht hatte, hörte er die Tür. Überrascht hob er den Kopf. Er war allein, Lilly war gegangen.
Von da an trafen sie sich immer am frühen Nachmittag. Sie kam ins Entree, und nachdem er die Arbeit im Eingangsbereich abgeschlossen hatte, erschien sie im Treppenhaus und strich unter seiner Leiter durch und wartete, bis er seinen Pinsel auf dem Gitter über dem Eimer abgelegt hatte und zu ihr heruntergeklettert war. Dann führte sie ihn schweigend in einen der zahllosen Räume des Hauses. Hin und wieder begegneten sie einem der Dienstboten oder Lillys Bruder, der mit leerem Gesicht an ihnen vorüberging, als würde er nicht einmal seine Schwester erkennen.
Herr Castenow war tagsüber in der Strumpffabrik und verdiente Geld. Ludwig sah ihn nur ganz selten am Morgen, bevor er das Haus verließ und mit einem schnellen, seltsam gleichgültigen Blick die Wandgemälde musterte und Ludwig dann auf die Schulter klopfte oder zunickte oder beides.
Frau Castenow begegnete er nur ein einziges Mal, sie kam mit einem der Mädchen vom Einkaufen zurück und schwebte in ihrem langen Mantel und mit wippendem Federhut an ihm vorbei, nach oben in ihre Gemächer, während das Mädchen ihr die Tüten und Schachteln nachschleppte.
Sie erschien ihm sehr groß und geschmeidig, als sie an ihm vorbeizog, wie ihre Tochter. Danach sah er sie nie wieder. Vermutlich verließ und betrat sie das Haus durch einen Seitenausgang,solange im Entree und im Treppenhaus gearbeitet wurde. Oder aber sie schlief den ganzen Tag in ihrem Zimmer und schlich sich nur nachts nach draußen wie eine jagende Katze.
Lilly ging vor ihm her, mit weichen, sanften Schritten, und er lief ihr nach. Jedes Mal erfüllte ihn die gleiche Mischung aus Widerwillen und Gier. Ihre Kleider waren aus einem feucht schimmernden Material und flossen über ihren schlanken Körper wie Wasser. Während sie vor ihm herging, sah er, wie die Muskeln in ihrem Rücken spielten und die Umrisse ihrer Schenkel, erst den einen, dann den anderen, wie glänzende lange Fische. Ein paar Mal ging er schneller, entschlossen, sie nun endlich zu berühren, sie festzuhalten und so den Zauber aufzubrechen, ein für alle Mal. Aber im letzten Moment fiel er doch wieder in eine langsamere Gangart zurück, er wagte es nicht.
Sie hielt das Rauschgift in ihrer linken Hand und den Spiegel in der rechten, er nahm immer den ersten Zug und sie den Rest. Danach verschwand sie.
Warum traf sie sich mit ihm? Was wollte sie von ihm? Warum passierte nichts zwischen ihnen? Die Sache ging nicht vor und nicht zurück. Wenn sie zusammen waren, blieb die Zeit stehen.
Liebte er sie? Nein, dachte er ohne ein Zögern. Liebte sie ihn? Nein, entschied er genauso schnell. Sie konnte nicht lieben, nur jagen.
Sie trafen sich in einem Salon im ersten Stock, im Grünen Zimmer, wie es genannt wurde, obwohl nur eine der Wände mit einer grünen Tapete überzogen war, der Rest war braun vertäfelt. Sie legte die
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