Zitronen im Mondschein
bemerkt, sie war so klein, auch das passte im Grunde nicht zu ihr, dass sie so klein war. Im selben Moment, in dem er auf sie herunterblickte, sah sie zu ihm hoch, als habe sie die ganze Zeit nur darauf gewartet. »Seien Sie nicht hirnverbrannt wie die anderen«, sagte sie mit ihrer eindringlichen, tiefen Stimme.
»Wie … was meinen Sie?«, stammelte er. Was wollte die Frau von ihm? Sie machte ihm Angst, stellte er fest.
»Ich spreche von dem Krieg, von dem ihr alle träumt, ihr dummen Buben«, fuhr sie sehr viel leiser fort. »Ihr denkt, dass es etwas Wunderbares ist, aber es ist nicht wunderbar, es ist nur schmutzig und furchtbar und wird euch vernichten – allesamt.« Ihr leiser Ton hatte etwas ungeheuer Bedrohliches. Er fragte sich auch, warum sie sich ausgerechnet an ihn wandte, er hatte sich doch vorhin gar nicht an der allgemeinen Unterhaltung beteiligt. Hatte sie etwa einen Blick auf ihn geworfen, nachdem die Affäre mit diesem jungen Doktor Benn beendet war? Else Lasker-Schüler schien den Gedanken zu erraten, jedenfalls lächelte sie auf einmal sehr süffisant und spöttisch.
»Wenn Sie den Mut haben, dann besuchen Sie mich doch einmal in meinem Hotel auf der Mottstraße«, sagte sie, während sie ihm ihre schmale Puppenhand hinstreckte, die in einem schwarzen Handschuh steckte. Neben ihr trat Paul ungeduldig von einem Fuß auf den anderen.
»Ich … werde sehen, was sich arrangieren lässt, gnädige Frau«, stotterte Ludwig.
»Sehen Sie, sehen Sie.« Die Lasker-Schüler lächelte hoheitsvoll, fast ein bisschen verächtlich, und dann ging sie.
III.
Am nächsten Morgen stand er wieder auf der Leiter, und heute sehnte er sich danach, dass Lilly mit einem Tablett und Kaffee käme, weil er so wenig geschlafen hatte. Sie kam aber nicht, erst kurz vor Mittag tauchte ein Dienstmädchen im Entree auf und erkundigte sich mit gerümpfter Nase, ob er etwas wünschte. Er bestellte Kaffee, aber um drei Uhr Nachmittag hatte sie ihn immer noch nicht gebracht, sie hatte ihn wohl vergessen.
Ludwig hatte aber das Gefühl, dass er besinnungslos von der Leiter fallen würde, wenn er nichts Anregendes bekäme. Er beschloss, selbst in die Küche zu gehen und nachzufragen. Er ging durchs Treppenhaus, den Gang hinunter, die dritte Tür rechts führte zur Küche, wenn seine Erinnerung ihn nicht täuschte. Am ersten Tag hatte Herr Castenow mit ihm einen Rundgang durchs Erdgeschoss gemacht. Er klopfte an und öffnete die Tür, als ihn eine Frauenstimme dazu aufforderte. Es war aber nicht die Küche, sondern ein düsteres Esszimmer mit einem schweren schwarzen Eichentisch, dunkelroten Vorhängen und dichten Stores vor den Fenstern, die kaum Tageslicht hereinließen. Am Tisch saß Lilly und sah ihn an. »Sie?«, fragte sie so überrascht, als ob sie sich zuletzt vor langer Zeit in einem fernen Land gesehen hätten.
»Entschuldigung«, sagte Ludwig. »Ich wollte zur Küche.«
»Die nächste Tür«, meinte Lilly, aber als er die Tür wieder zuziehen wollte, hielt sie ihn auf. »Halt, so warten Sie doch gefälligst!«
Dieser Kommandoton! Ludwig runzelte die Stirn und wollte nun erst recht weg, aber sie war schon aufgestanden und stand jetzt direkt vor ihm.
»Was wollen Sie denn in der Küche?«
»Kaffee – das Mädchen hat vergessen, ihn mir zu bringen.«
»Ach«, fragte sie mitleidig, »sind Sie müde?«
»Ganz recht.«
»Ich habe aber etwas Besseres als Kaffee für Sie, wenn Sie wieder auf die Beine kommen wollen. Mögen Sie es einmal probieren?«
Er zögerte einen Moment lang. Das genügte ihr als Antwort. »Kommen Sie!« Sie zog ihn durch die halb geöffnete Tür in den Raum. Dann saß sie an dem runden Esstisch, und vor ihr lag ein Spiegel, auf den sie weißes Pulver stäubte, eine S-förmige Linie. »Sie sind dran«, sagte sie lächelnd, während sie gleichzeitig einen Hundertmarkschein zusammenrollte und ihm reichte. »Aber nur bis zur ersten Kurve.«
Er wollte eigentlich nicht, nicht hier und nicht mit ihr, aber auf der anderen Seite wollte er es doch und gerade mit ihr. Also sog er den oberen Bogen des S durch die Nase in sich hinein. Es war nicht das erste Mal, dass er Kokain schnupfte. Er spürte das Pulver kribbelnd und ein wenig beißend in der Nase, dann im Rachen. Unwillkürlich verzog er die Oberlippe und rümpfte die Nase, was offensichtlich komisch wirkte, denn Lilly lachte. Dann nahm sie selber den Geldschein und saugte den Rest der weißen Linie durch die Papierrolle auf.
»Ahh«, machte sie und
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