Zitronen im Mondschein
Ludwig dabei an, so dass er ihre rote Zungenspitze zwischen ihren Zähnen glitzern sah. Zu seinem Ärger bekam er sofort eine Erektion.
»Das geht nicht«, sagte er brüsk und viel lauter, als er es beabsichtigt hatte. »Ich habe keine Zeit. Ich gedenke, Berlin zu verlassen.«
Die Worte überraschten ihn selbst genauso wie Lilly. »Ach! Du gehst weg? Wohin denn?« Ihr Lächeln wurde ein bisschen unsicher, als er sie wortlos anstarrte, während seine Gedanken zuerst durcheinanderflogen und sich dann aufreihten, in schönster Ordnung und Klarheit. Er hasste Lilly, das war der Gedanke, der ganz am Anfang der Reihe stand. Er hasste sie und ihren Bruder und ihre Verkommenheit. Er hasste sie, weil sie die Erinnerung an Maria und seine Gefühle für sie vollkommen in den Hintergrund gedrängt hatte. Und er hasste auch Maria, das war der zweite Gedanke, dafür, dass sie ihn verlassen hatte, anstatt ihn vor Lilly zu bewahren. Er hasste sich selbst, dachte er drittens, und wenn er die Achtung vor sich wieder finden wollte, dann musste er hier weg. Er musste diesen eitlen, dekadenten Menschen, diesem nichtigen Großstadtleben den Rücken kehren. Er musste seinen Körper spüren und wahre Gefühle fühlen: Leidenschaft, Angst, Kameradschaft, Schmerzen. Das würde er tun, dachte er zum Schluss: Er würde dem Tod insAuge schauen und endlich in seinem Innersten erfahren, was das hieß – zu leben.
Es lag alles so nahe. Er brauchte dafür nicht einmal um die halbe Welt zu reisen wie Pechstein, er brauchte auch kein Geld und keine Beziehungen, nur Mut.
»Ich werde mich freiwillig melden«, erklärte er. »Ich ziehe in den Krieg.«
Sechstes Kapitel
I.
Die geschlossene Reihe der Soldaten schob sich auf die Menge zu, und als sie sie fast erreicht hatten, eröffneten sie das Feuer. Es dauerte eine Weile, bis die Menschen erkannten, was geschah, dass die Soldaten sie angriffen, obwohl sie unbewaffnet waren, vollkommen wehrlos.
Panisch begannen die Ersten zu fliehen, und plötzlich war die breite Treppe voll von rennenden, schreienden Menschen. Hinter ihnen die Soldaten. Links, rechts, links, rechts, marschierten die Linien, im Gleichschritt, in völliger Gleichgültigkeit, wie eine furchtbare seelenlose Maschine. Sie hoben ihre Gewehre und schossen in die Menge, sie zielten gar nicht dabei, da waren ja so viele, jede Kugel traf. Überall fielen sie und starben und brachten im Tod noch diejenigen zum Stolpern und Sterben, die hinter ihnen rannten.
Die Frau hatte ihren kleinen Jungen an die Hand genommen und floh nun ebenfalls. Sie zog ihn hinter sich die Stufen hinunter, dann traf ihn eine Kugel, und er stürzte. Seine kleine Hand glitt aus ihrer großen, sie merkte es gar nicht in ihrer Panik und rannte einfach weiter.
Erst als sie fast unten war, hörte sie ihn schreien, aber da war es schon zu spät. Er lag ausgestreckt auf den Stufen, blutend streckte er die kleinen Arme nach ihr aus, dann wurde er von der Menge überrannt.
Ihr Mund wurde zu einem schwarzen Oval, ein schreiendes Loch. Weit aufgerissene Augen in dunklen Höhlen. Er war verloren, er war tot, es war ganz offensichtlich. Sie kämpfte sich dennoch durch das Meer der Fliehenden zurück, bis sie ihn erreicht hatte. Sie nahm ihn hoch und setzte sich wieder in Bewegung, aber anstatt zu fliehen, ging sie weiter treppauf, gegenden Strom, auf die Soldaten zu. Sie hielt ihren kleinen toten Sohn wie einen Schutzschild vor sich und stieg Stufe um Stufe nach oben.
Andere wurden auf sie aufmerksam und begannen ebenfalls, auf die Soldaten zuzugehen. Aber sie war die Erste. Mit dem toten Kind auf dem Arm trat sie in die Schatten, die die Körper der Soldaten auf die Treppe warfen. Die Soldaten hoben die Gewehre und erschossen sie.
Mira hielt Anselms Hand. Sie hatte sie schon viel früher ergriffen, als die protestierenden Matrosen auf Deck erschossen werden sollten. Und danach hatte sie Anselms Hand nicht mehr losgelassen. Sie hielt sie, als die meuternden Matrosen den toten Wakulintschuk am Kai von Odessa niederlegten. Sie hielt sie, als sie den Zettel auf seine Brust legten:
Für einen Löffel Suppe.
Sie hielt sie, als Soldaten anrückten, während des Massakers auf der Treppe, während der ganzen Filmvorstellung bis zum heroischen Ende der Revolutionäre.
Dann gingen die Lichter an, und sie ließ die Hand los. Anselms Augen glänzten im Licht der Kronleuchter. Waren das Tränen? Aber nein, das passte doch nicht zu ihm, dass er vor Rührung weinte.
»Es war
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