Zitronen im Mondschein
wunderbar«, sagte sie leise, als er nichts sagte. Die Worte klangen seltsam unpassend. Es war überwältigend, revolutionär, schockierend. Was sagte man, um einen solchen Film zu beschreiben? Panzerkreuzer Potemkin, Anselms Lieblingsfilm, von dem er ihr so viel erzählt, von dem er so geschwärmt hatte.
»Schade«, sagte Anselm. »Es war ein Meisterwerk. Jetzt ist es konventionell, schal«, erklärte er, als Mira ihn ratlos ansah.
Sie nickte, ein wenig beschämt über ihre Begeisterung. »Ich habe die Originalversion ja leider nicht gesehen.«
»Eine Schande ist das«, sagte Anselm. Sie war sich nicht ganz sicher, ob er sie damit meinte oder ob er von den Zensoren sprach, die den Film zuerst verboten und dann verstümmelt hatten.
Er hatte sie ins Kino eingeladen, sobald er erfahren hatte, dass Panzerkreuzer Potemkin in Düsseldorf wiederaufgeführt wurde. Die Vorstellung fand im Capitol-Lichtspieltheater am Worringer Platz statt. Trotzdem bekannt war, dass der Film um fast eine Viertelstunde gekürzt worden war, war der Saal brechend voll. Es war ein anderes Publikum, als es Mira von den üblichen Kinovorführungen kannte. Männer mit Schnurrbärten und Schiebermützen, Frauen, die ihr Haar zu Zöpfen geflochten und um den Kopf gesteckt trugen. Während der Vorstellung waren alle so laut gewesen. Bei der Meuterei der Matrosen brach man in lauten Jubel aus, Wutschreie kommentierten die Erschießung des mutigen Wakulintschuk, und beim Massaker auf der Treppe brachen einige Frauen laut und ungehemmt in Tränen aus. Hinterher standen die Zuschauer auf den Stühlen, klatschten und pfiffen vor Begeisterung. Mira war es ein bisschen unheimlich – diese leidenschaftliche Anteilnahme, diese zur Schau gestellten Gefühle, als ob das Ganze kein Film wäre, sondern Wirklichkeit.
Im Orchestergraben packten die Musiker ihre Instrumente zusammen. Viele Blechbläser, ein paar Streicher, drei Schlagzeuger. Vor ihnen stand immer noch der Dirigent im Gespräch mit zwei anderen Männern.
»Kennst du sie?«, fragte Mira, weil Anselm immer zu ihnen hinuntersah.
»Den Dirigenten.« Anselm nahm seine Brille ab und begann sie zu putzen. »Die anderen beiden nicht, jedenfalls nicht persönlich. Sie sind aber in der Partei.« Die Partei, das hatte Mira inzwischen gelernt, war die KPD, die Kommunistische Partei Deutschlands. Und der Kommunismus, auch das hatte sie schnell begriffen, war Anselms Leidenschaft, seine Überzeugung, seine Religion.
Im Dezember 1926 hatte sie ihn zum ersten Mal zu der wöchentlichen Versammlung seiner Ortsgruppe begleitet, die im Hinterzimmer einer Gaststätte auf der Linienstraße stattfand. Seitdem ging sie immer mit, sie setzte sich schräg hinter Anselm, der den Treffen vorsaß, und trank schwarzen Kaffee oder Bier wie die anderen, obwohl sie beides nicht mochte.
Mira hatte am Anfang befürchtet, dass sie die einzige Frau wäre, aber das war nicht so. Die Männer überwogen zwar, aber immerhin gut ein Drittel der Mitglieder waren Frauen. Mira blieb aber trotzdem außen vor. Während sie hinter Anselm saß und ihren Kaffee trank und den anderen beim Diskutieren zuhörte, überlegte sie oft, woran das wohl lag, dass sie sich überhaupt nicht zugehörig fühlte.
Vielleicht war es ihr Beruf. Sie war das einzige Serviermädchen. Die anderen Frauen arbeiteten zum Großteil in Fabriken, sie sortierten Schrauben oder stapelten Metallteile oder nähten Kleidungsstücke in riesigen Hallen voller surrender Nähmaschinen. Sie lebten ein anderes Leben, sie dachten andere Gedanken, und sie sprachen eine Sprache, die Mira kaum verstand.
Vielleicht war es ihre Beziehung zu Anselm. Sie waren ein Paar, aber sie waren nicht verheiratet wie die anderen Paare. Sie waren nicht einmal verlobt. Waren sie überhaupt ein Paar?
Sie war sich nicht sicher, ob er sie liebte. Er besuchte sie jetzt oft, ging mit ihr spazieren, ins Theater oder ins Kino, und wenn sie ins Odeon kam und er spielte, brachte er sie hinterher nach Hause. Er diskutierte mit ihr über Filme, Musik und Politik, vor allem über Politik. Er küsste sie, wenn sie sich nachts vor ihrem Haus verabschiedeten, jedenfalls hatte er sie nun schon drei Mal geküsst, bevor sie mit klopfendem Herzen nach oben in ihr Dachzimmer gerannt war.
Er hatte aber niemals gefragt, ob er mit nach oben kommen könnte oder ob sie in seiner Wohnung in der Eller Straße übernachten wollte. Es wäre ja auch gar nicht möglich gewesen. Herrenbesuch war nicht erlaubt, und Frau
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